Das Schweigen in der Tüte

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 208

Ich weiß nicht, ob es gut ist. Ich sammele die Plastikverschlüsse von Milchpackungen. Es ist für einen guten Zweck, sagt Gesine Stabroth. »Du verwahrst doch sonst jeden Mist, also jetzt halt die Dinger!« Gewiss, ich neige dazu, Zeitungen zu archivieren, so lange, bis ich sie ungelesen und Jahre später endlich ins Altpapier gebe. Aber ich mag mich nicht deswegen von Gesine Stabroth verhöhnen lassen. Gesine Stabroth deckt sich auf Flohmärkten mit dem nutz­losesten Zeug ein und drapiert es in ihrer Wohnung, die alle so unglaublich gemütlich finden, die aber eigentlich bloß raffiniert ­unaufgeräumt ist.

 


Gesine Stabroth sammelt dekorativ-qualitativ. Ich sammle ­archivarisch-quantitativ. Beides ist nicht toll, aber schon okay. Das Sammeln der ewig gleichen Plastik­verschlüsse kommt meinem Naturell entgegen. Ich bin nur froh, dass keine Nummern eingeprägt sind. Ich wäre sonst versucht, sie zu sortieren.  

 


So aber brauche ich die Verschlüsse bloß in eine kleine Tüte zu geben. Ist sie gefüllt, geht Gesine Stabroth damit ein bisschen die Welt besser machen. Das Besondere ist, dass ich gar nicht weiß, wie das geht, ja, dass ich es auch gar nicht wissen will. Ich fürchte auch, dass mich die Sache nicht überzeugen würde.

 


Eigentlich könnte ich auch einfach Geld spenden, dachte ich, als ich in das Plastiktütchen schaute, aus dem ein strenger Milchsäuregeruch aufstieg. Und die Milchfabrikanten anhalten, auf ökologischere Verschlussalternativen umzusteigen. Man soll doch möglichst auf Plastik verzichten. Ja, ich sollte einen Geldbetrag überweisen, in einer Höhe, die mich ein wenig in eine finanzielle Schieflage brächte. Werde ich die Kraft aufbringen?

 


Tobse Bongartz sammelt Schallplatten, ich glaube, so wie ich Zeitungen sammele, die allmählich zu Altpapier werden. Er hat Altschallplatten, aber er wirft sie nicht weg, es werden immer mehr. Ich war empört, dass sich jemand wie Tobse Bongartz über meine Milchpackungsdeckel echauffiert. Tobse Bongartz sagt, das sei etwas für alte reiche Damen mit grell lackierten Fingernägeln, die all die Milchpackungen für ihren White Russian benötigen, mit dem sie morgens im Satinbademantel über die Veranda schwanken. Sicher gibt es für diese Klientel Design-Milchdeckelsammeltütchen aus nachhaltigem Krokoleder. Nie würden sie einem Armen einen Geldschein zustecken, sie wollen das Elend nicht sehen, sondern Charity-Partys feiern. Aber bin nicht anders? Was fühle ich, wenn ich den Plastikdeckel ins Tütchen stecke? Es ist etwas Dumpfes, so als würde die Seele angerempelt. Es ist das Gefühl ­einer unentrinnbaren Schuld.  
Atze und Pit, die immer mit ihren Hunden vor Trinkhalle Hirmsel herumsitzen, sagten mir, man könne auch Kronkorken sammeln. Auch sie dienten dann irgendwie einem karitativen Zweck. Das fand ich interessant, weil ich Bier interessanter finde als Milch. Bier ist symbolisch auch enorm aufgeladen. Es steht am Anfang der Zivilisation und zugleich an deren Ende. Schauen Sie sich die Junggesellenabschiede an.

 


Es gibt übrigens sehr schöne Kronkorken. Man achtet sonst gar nicht darauf. Ich öffne Bierflaschen jetzt immer so, dass die Kronkorken nicht zerbeulen. Vielleicht behalte ich sie und spende lieber Geld.

 


Gesine Stabroth sagt, die Tütchen mit den Kronkorken stänken ihr zu sehr, die nähme sie nicht mit. Und Bier für einen guten Zweck zu trinken, das sei ja wohl pervers.  
Ich denke manchmal, es sei womöglich eine Illusion, dass ich diese Dinge sammele. Die Dinge versammeln sich in Wirklichkeit um mich. Fast so, als wollten mir die Kronkorken und Milchpackungsdeckel etwas mitteilen, doch was ist es? Ich höre nur ihr Schweigen, und es wird immer lauter.