»Ray & Liz«

 

Richard Billingham zeigt seine suchtkranken ­Eltern schonungslos liebevoll

Wenn niemand aufräumt, kommen die Fliegen. Das ist eine der ersten Beobachtungen in »Ray & Liz«. Ray ist ein älterer Mann, der in einem Wohnturm vor sich hindämmert. Da es von ihm nicht viel zu erzählen gibt, geht die Kamera auf die Details, zum Beispiel die Fliegen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass Ray sich ge­hen lässt, dass er gar nicht mehr alles bemerkt, was um ihn herum vorgeht. Als er schließlich das Fenster öffnet, sieht man, dass es draußen schön ist, oder schön sein könnte.

 


Ein eigentümliches Staunen durchzieht diesen Film, von dem eigentlich eine tiefe Trostlosigkeit ausgehen müsste, der aber etwas Besonderes schafft: Er zeigt eine Welt, die sonst allenfalls in Sozialreportagen auftaucht, und er verleiht den Menschen eine Würde, obwohl man meinen könnte, dass diese alles dafür tun, diese Würde zu verlieren.

 


Ray und Liz sind (genauer ge­­sagt: waren) die Eltern von Richard Billingham (Interview S. 86). Mit Foto­bänden über sie wurde er berühmt. Nun kehrt er in die Welt seiner Kind­heit zurück, in eine Gegend im Umland von Birmingham, in der die Natur nie weit weg ist, aber auch viel Zeit in engen Innen­räumen verbracht wird. Der Junge, den wir als Stellvertreter von Billingham sehen können, steht nur selten im Mittelpunkt. Er wird kaum beachtet, denn die Erwachsenen sind mit sich selbst beschäftigt, mit alltäg­lichem Kram: mit Alkohol und Zi­garetten, mit dem Warten auf die nächste Auszahlung der Sozialhilfe. Die Eltern nehmen ihre Verantwortung nicht wahr.

 


Aber »Ray & Liz« ist keine An­klage, sondern eine Rekonstruktion. Was Kindheit für einen Jungen in diesen Verhältnissen bedeutet haben mag, macht Billingham an verschiedenen Episoden deutlich. In der einen kommt Rays Bruder, um auf den Kleinen aufzupassen. Ein weiterer Besucher macht einen verträumten, langweiligen Nachmittag zur sadistischen Szene, in der ein wehrloser Säufer fast zu Tode kommt. In der zweiten Hälfte des Films sehen wir den Jungen draußen, er findet schließlich bei der Familie eines Freundes eine erste Anlaufstelle, um sich aus der Gewalt der Familie zu befreien.

 


Bei all dem aber ist »Ray & Liz« immer liebevoll. Die Figuren mö­gen grotesk oder erbarmungswürdig wirken, es geht aber in keiner Sekunde darum, sie zu denunzieren oder auszustellen. Stattdessen ist dieser großartig fotografierte und ausgestattete Film — ein Werk auch über die Zeit, in der in England der Neoliberalismus Einzug hielt — ein Dokument großer Menschlichkeit unter schwierigsten Bedingungen.

 


Ray & Liz (dto) GB 2018, R: Richard ­Billingham, D: Justin Salinger, Ella Smith, Tony Way, 108 Min.