Stricken und demonstrieren

 

Vor hundert Jahren wurde die Kölner Volkshochschule gegründet. Die VHS versprach Bildung für alle — und die Erziehung der Menschen zur Demokratie. Hat das geklappt? Ein Besuch

 

Vier Frauen und drei Männer sitzen im Unterrichtsraum im Bezirksrathaus Nippes. Es ist ein kalter Aprilabend, aber der Kursleiter lässt das Fenster zunächst weit offenstehen. »Denkarbeit macht schnell dicke Luft«, sagt er. Seit dreißig Jahren arbeitet er als Mathematik-Dozent an der Kölner Volkshochschule, heute unterrichtet er »Mathematik Kompakt 1«, einen Kurs mit sieben Terminen für 122 Euro. An diesem Abend stehen die Quadratwurzel von Zwei als Beispiel für irrationale Zahlen sowie der Satz des Pythagoras auf dem Stundenplan.

 


Der Kursleiter wählt drastische Formulierungen, denn nun werde es sehr abstrakt. »Das wird heute bis aufs Knochenmark gehen«, sagt er. Mathematik funktioniere eben nicht nach dem kölschen Prinzip »Et hätt noch immer jot jejange«: »Nichts geht ohne Beweis.« Draußen braust die Linie 13 auf der Hochbahn vorbei, während die Teilnehmer eifrig mitschreiben, was ihr Dozent erklärt und an die Tafel zeichnet. Eine pensionierte Musiklehrerin ist dabei, die Mathe lernen will, weil sie sich sehr für Astronomie interessiert. Zwei Anglisten, die ein BWL-Abendstudium absolvieren und dafür ihre Mathe-Kenntnisse auffrischen müssen. Eine Künstlerin, die »viel mit Technik und Programmierung« arbeitet. Aber auch eine junge Frau, die Kauffrau im Einzelhandel werden möchte, aber eine schlechte Mathe-Note im Abschlusszeugnis hat. Ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz hofft sie durch den Kurs zu verbessern.

 


»Wir haben hier eine große Bandbreite sitzen«, sagt der Kursleiter. Er ist Volkshochschullehrer aus Überzeugung. Zu Beginn der Kurse erzählt er schon mal, dass die Volkshochschulen und ihr Bestreben nach Bildung für alle eng mit der Geschichte der demokratischen Verfassung verbunden seien. Aber viele junge Menschen interessiere der gemeinschaftliche Rahmen nicht mehr. »Viele wirken abgestumpft und gucken sehr oft aufs Handy«, sagt er.

 


Am 24. Mai feiert die Kölner VHS, wie viele Volkshochschulen, ihr 100-jähriges Jubiläum. Auch im Zuge dieser Feiern wird der demokratische Geist der Volkshochschulen beschworen. »Das Jahr 1919 war gekennzeichnet vom Aufbruch in die Demokratie. Wer das demokratische Gemeinwesen mitgestalten möchte, brauchte Bildung«, sagt Jakob Schüller, Leiter der Kölner VHS seit 2013. Entstanden sei die Volkshochschule aus Arbeiterbildungsvereinen und der »Vereinigung geistiger Arbeiter«, einer Initiative von Universitätsdozenten. Am Anfang gab es vor allem Schreib- und Rechenkurse sowie Vorträge. Den Auftakt im Mai 1919 machte ein Vortrag im Gürzenich zur neuen Weimarer Reichsverfassung, die auch festlegte, dass Volkshochschulen staatlich gefördert werden sollen. Kurz vor der NS-Zeit schloss die VHS jedoch wegen knapper Kassen und entging so einer Übernahme durch die Nationalsozialisten, die mit der »Volksbildungsstätte« ihre eigene Weiterbildungseinrichtung aufbauten.

 


Im September 1946 eröffnete die VHS in der Aula der Universität wieder. Auch dieses Mal habe im Zentrum gestanden, die Menschen zur Mitarbeit an der Demokratie zu ermutigen, sagt Jakob Schüller. Aber er sagt auch: »Volkshochschule war immer politisch und weltanschaulich neutral.« Darin sehen Kritiker der Volksbildungs­bewegung eine verpasste Chance. So sei es den Volkshochschulen weder nach dem Ersten noch dem Zweiten Weltkrieg gelungen, zu einem Bündnis mit der Arbeiterbewegung zu kommen, kritisierte der Kölner Publizist Walter Fabian. Deshalb sei der Bildungsbegriff der VHS zu eng, gesellschaftspolitische Zusammenhänge würden ausgeklammert. Theodor W. Adorno wiederum schrieb in einem Beitrag zum Deutschen Volkshochschultag 1956, die Erwachsenenbildung solle die »kontroversen Themen« aufgreifen und versuchen, »die Menschen zur Einsicht ins Wesentliche der gegenwärtigen Gesellschaft zu bringen, ihnen die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und Prozesse zu zeigen, denen sie unterworfen sind. Kurse über die Verflechtung der großen Wirtschaft und der Gesellschaft heute und über die politischen Konsequenzen sollten wohl die erste Stelle einnehmen.« Dazu kam es bekanntlich nicht, Adorno kam auf dem Volkshochschultag nicht mal zu Wort.

 


Dass sich VHS-Teilnehmer politisierten, geschah mitunter beiläufig. Hannelore Pirk besuchte 1957 ihren ersten Kurs, Titel: »Römer in Köln«. Damals war die VHS im Hansa-Hochhaus untergebracht, das Haus am Neumarkt wurde erst 1965 gebaut. Pirk kam aus Mönchengladbach und hatte gerade eine kaufmännische Lehre abgeschlossen. »Hochinteressant war das, die römische Geschichte interessiert mich bis heute.« Es folgten weitere Kurse, Jugoslawisch, Gymnastik, Keramik. Nach ihrer Heirat hatte Pirk aufgehört zu arbeiten. »Die Kurse besuchten vor allem Rentner, Hausfrauen, aber auch Studenten — auch viele Männer übrigens«, erzählt Pirk. Die Teilnehmer eines Puppenspiel-Kurses nahmen schließlich in den 70er Jahren an Demonstrationen gegen die geplante Stadtautobahn im Grüngürtel teil, wo sie mit Puppenspiel gegen die Pläne der Stadt agitierten. »Mein Mann fuhr mich und unsere Ausrüstung zur Neusser Straße, wo überall Polizei mit Wasserwerfern stand. Kannst du mir sagen, was du hier machst, fragte er«, sagt Pirk. Als sogenannte Freizeithelferin leitete sie später selbst Keramikkurse an Grundschulen. »Es gab damals viele teuer ausgestattete Werkräume an den Schulen, aber keine Lehrer, die das bedienen konnten.« Die Keramikkurse an der VHS liefen über fünf Semester, wobei man im letzten frei im Atelier arbeitete.

 


Manche hätten die Kreativkurse gern aus dem Programm gestrichen. Kulturdezernent Peter Nestler zeterte, die Kölner sollten lieber »evangelisch oder katholisch stricken«, aber nicht an der Volkshochschule. Der Kreativbereich blieb, andere gingen verloren, vor allem im Zuge der Sparmaßnahmen in der Verwaltung um die Jahrtausendwende. Seither können Erwachsene an der VHS ihren Schulabschluss nicht mehr nachholen. »Wir sind die einzige großstädtische VHS in Deutschland ohne Schulabschlussbereich«, sagt Schüller. Außerdem wurden Standorte in Rodenkirchen, Chorweiler und Ehrenfeld geschlossen. Dabei müsse die Bildung doch bei den Menschen stattfinden, findet Schüller. »Unser Anspruch lautet schließlich: Bildung für alle.« Schüller will in die Veedel zurückgehen, und am ehesten gelingt ihm das bei der Arbeit mit Geflüchteten. In Mülheim finden Integrationskurse statt, auch in Chorweiler gibt es Sprachkurse.
Die Mathe-Kurse laufen nicht mehr so gut, oft kommen sie aus Mangel an Interessenten nicht zustande. Berufsorientierte Kurse laufen besser, auch Sprachen und Gesundheitskurse. Schüller sagt: »Die Menschen lernen heute zweckorientierter.« Wenigstens muss Adorno das nicht mehr erleben.

 


Im Mathe-Kurs nähern sich die Teilnehmer dem Knochenmark: dem Quadratwurzel-Beweis. Noch immer sind sie eifrig bei der Sache. Nichts geht ohne Beweis. Allerdings gibt der Kursleiter zu bedenken, dass gewisse physikalische Denkweisen die Existenz von Geradlinigkeit anzweifelten. Vielleicht sei der Raum und alles darin auch einer Krümmung unterworfen. »Der Satz des Pythagoras unterstellt, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade ist.« Sollte das nicht stimmen, dann habe man auf mehr als 40 Arten etwas bewiesen, das gar nicht existiert.