Zwischen Koran und den Simpsons

 

Der Debütfilm »Oray« blickt in die Welt der Kölner Hinterhofmoscheen, sein Regisseur Mehmet Akif Büyük­atalay wird ebenso gefeiert wie skeptisch beäugt

 

Zum Treffen erscheint Mehmet Akif Büyük­atalay auf Krücken: Der eher feingliedrige Regisseur hatte schlichtend in eine aufkeimende Schlägerei eingegriffen und war von einem Mob brutal vermöbelt worden. Dass nur der Fuß gebrochen ist, erscheint angesichts der ungezügelten Gewalt — »Blutrausch« sagt er — fast glimpflich. Abgesehen davon hat er sich in den letzten Jahren in Köln prächtig eingelebt: Ehrenfeld ist sein Veedel, im türkischen Restaurant an der Ecke Venloer Straße/Sömmeringstraße begrüßt man ihn herzlich.

 


Büyükatalay wurde 1987 in Bad Hersfeld bei Kassel geboren und ist in der Stahlstadt Hagen aufgewachsen; Köln kannte er nur von Kino-Exkursionen. Er stammt aus einem Arbeiterhaushalt und frönte zuhause seiner Leidenschaft fürs Zeichnen und Schreiben. Sein be­­lesener Vater, der vor allem religiöse und politische Literatur schätzte, befürwortete ein Studium des ­Sohnes, weil er sich davon einen Karriere- und Klassensprung erhoffte. Es bedurfte erst des zweiten Bildungsweges — und der Förderung durch einen aufmerksamen Lehrer —, bis die Einsicht reifte, dass auch Kunst ein Beruf sein kann. Büyükatalay entschied sich für Köln, die Kunsthochschule für Medien (KHM) bot als einzige Lehranstalt das gleichzeitige Studium von Film und Kunst an.
Im Umfeld der KHM hat sich in den letzten Jahren eine kleine Community deutschtürkischer Filmschaffender herangebildet, die alle sehr unterschiedlich arbeiten, sich aber treu unterstützen. Büyük­atalay hat sein Studium in der Kölner Altstadt mit seinem Langfilm-Debüt »Oray« abgeschlossen, der im Februar auf der Berlinale Pre­mie­re hatte. Dort gewann er einen hoch dotierten Preis für den besten Nachwuchsfilm, es folgten Einladungen zu zahlreichen weiteren Festivals.

 


Der junge Protagonist Oray, ein Hitzkopf, verstößt im Übereifer sei­ne über alles geliebte Frau Burcu mit der islamischen Scheidungs­formel »talaq«. Jetzt muss er mit seinem Gewissen und den Erwartungen der Community ins Reine kommen, ohne Burcu zu verlieren. Der Islam vermittelt dem ehema­ligen Kleinkriminellen Halt und Werte, nun testet er im bislang schützenden Kollektiv seinen in­dividuellen Spielraum aus.

 


Mehmet Akif Büyük­atalay bezeichnet die Geschichten und Bräuche des Islam als wichtigen Teil seiner Biografie: »Der Koran hat mich genauso geprägt wie die ›Simpsons‹«. In »Oray« ist Religion unter anderem auch eine Art Jugendkultur: Denn als Außenseiter und Underdogs hätten die Protagonisten genauso gut Rapper oder Hooligans werden können. Hauptdarsteller Zejhun Demirov war eine Zeitlang auch als Salafist unterwegs; zum Casting erschien er mit Red-Bull-Dose und Kippe. »Der war vorher auch so ein lost boy«, schmunzelt Büyükatalay. Auf der Berlinale erhielt Demirov für seine schauspielerische Leistung den begehrten First Steps Award.
Migrantische Stoffe authentisch, nah an den Figuren, filmisch überzeugend und jenseits von Klischees umzusetzen, dazu bedarf es in der risikoscheuen Filmförderlandschaft eines starken Netzwerkes.  Büyük­atalay hat deshalb mit den Bayern Bastian Klügel und Claus Reichel die Produktionsfirma ­Filmfaust gegründet. Sie verstehen das Filmemachen als politischen Akt und investieren in die Produktion herausfordernder Filmstoffe. Gerade entsteht etwa »Homeless Hearts«, ein in Beirut gedrehter, während des Bürgerkriegs spielender Kurzfilm, der von der Liebe zweier schwuler Heckenschützen handelt.

 


Filmfaust verortet sich in Köln, versteht sich aber nicht als deutsche, sondern als internationale Produktionsfirma. Der Name wur­de von einem Diktum des Film­avant­gar­disten Sergei Eisenstein inspiriert: »Wir brauchen kein ›Filmauge‹, sondern eine ›Filmfaust‹« — sonst hagelte es »millionen Veilchen«, schrieb er 1917. Tatsächlich darf das Team von »Oray« nicht zimperlich sein: Der Film wird in der Szene kontrovers wahrgenommen. Viele der in den Dreh involvierten Verwandten reisten zur rappelvollen Teampremiere in der KHM-Aula an — aber nicht jeder wollte dem Filmemacher anschließend gratulieren. Zu ungewohnt, zu kritisch erschien vielen der Blick.
Auf dem renommierten Nürnberger Filmfestival Türkei Deutschland wiederum debattierten die türkischen Jurymitglieder tagelang, welcher Gruppierung der saloppe Jungfilmer nun zuzurechnen sei, da er die bei den säkularen Intellektuellen und Kulturschaffenden verhassten Religiösen so positiv darstelle. »Die Türkei ist politisch gespalten, die Leute können Film nicht als Kunstwerk per se wahrnehmen, sondern nur aus der ­Ideologieperspektive«, erklärt Büyük­atalay.
Nervöser als vor der Berlinale war er daher vor den Türkeipremieren, die »Oray« im April auf gleich zwei wichtigen Festivals absolvierte: in Ankara und auf dem großen, traditionell autoritätskritischen Internationalen Filmfestival Istanbul. Die Reaktionen waren laut Büyük­atalay positiv: »Aber die Leute waren auch irritiert, dass der Film keine Partei ergreift. Dementsprechend fragten sie auch mal direkt, was meine politische Intention war.« Kein Wunder: Die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Islam ist im türkischen Independent-Kino seit jeher geradezu abwesend.

 


Jetzt hat Büyük­atalay es hinter sich — Istanbul, die Stadt mit den sieben Hügeln und tausend Treppen auf Krücken. Zuhause geht die Recherche am nächsten Stoff weiter, einem durch und durch kölschen Thema: die Geschichte türkischer Gastarbeitermusik rund um das Label »Türküola«.