Meinwanderungsland
Ab und zu gucken deutsche Feuilletonredakteure samstagabends Fernsehen, und dann, ja Wahnsinn!, entdecken sie in den großen Spiele-Shows auf ProSieben eine ganz neue Realität: Viele der jungen Leute, die da um die Wette hangeln und abenteuerliche Event-Spiele bewältigen, stammen augenscheinlich aus Familien, die einst nach Deutschland eingewandert sind. Und, da staunt der Redakteur, es spielt in diesen Shows überhaupt keine Rolle! Dass Deutschland Einwanderungsland ist, ist in der Kulturindustrie längst eine Selbstverständlichkeit und reflektiert, wie gebrochen auch immer, gesellschaftliche Realität. Das Staunen des Feuilletons darüber, ist ein Staunen über die eigene Borniertheit.
In den letzten drei Monaten tourte das Ehrenfelder »Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland« (Domid) mit der Ausstellung »Meinwanderungsland« durchs Land. Die Aussage ist eigentlich ganz einfach: Die Leute wandern nicht nur nach Deutschland ein, sie verändern dabei das Land, machen es auch zu ihrem, entwerfen vielschichtige, gebrochene, hybride Identitäten. Zum Abschluss der Ausstellungstour wird gefeiert, standesgemäß
in den Bahnbögen des Ehrenfelder Bahnhofs, wo man auch ohne Kenntnis des ProSieben-Programms das Meinwanderungsland Wochenende für Wochenende erleben kann.
Und ebenso standesgemäß ist das herausragende musikalische Programm — weil die Musikerinnen und Musiker sich Zuschreibungen und also Klischees entziehen und dann doch geschickt mit ihnen spielen und weil sie darüber die Lust an der Musik nicht verlieren und im Zweifelsfall statt auf »Diskurs« auf satte Beats setzen.
Über wen reden wir? Über den Köln-Istanbuler Saz-Spieler Elektro Hafiz, dessen Psychedelic-Dub an eine zugespitzte Version von Zappas »Hot Rats«-Jazzrock erinnert. Über Kutlu Yurtseven, den Rapper von der Microphone Mafia, der mit dem Violionisten Markus Reinhardt und Boxtrainer Rudi Rumstajn den Bogen von Django Reinhardt zu hartem HipHop (und wieder zurück) spannt. Über Ket, die mit ihrem Album »Traverser la rue« den hiesigen Rap durchgewirbelt hat. Und über DJ Burakete, dessen Süperdisko-Partys all diese Musiken umarmen und noch mal durchmischen. Mehr geht eigentlich nicht in einen Abend. Aber ab und an eine Überdosis Realität tut nicht nur Feuilletonredakteuren gut.