Amoklauf der Triebe

 

Robert Borgmann inszeniert Hans Henny Jahns selten gespielte »Medea« am Schauspiel

 

Es beginnt mit einer Flüchtlingsfamilie, das Dach einer Halle über den Köpfen. Im Nebel und Neonlicht gibt die Mutter auf der Bühne ihren Kindern Gift, bevor sie ihre leblosen Körper in eine Tiefkühltruhe wirft. Ihr Mann ist wieder mal unterwegs. Er hat in Kolchis sie und das Goldene Vlies geraubt. Jetzt versucht er sich in Korinth bei einer anderen Königstochter das Bleiberecht zu ervögeln.

 


Die zauberkräftige Kolcherin Medea hat sich aufs Gröbste verspekuliert, als sie sich in den griechischen Helden Jason verliebte, ihm ihre ewige Jugend übertrug, ihren Bruder opferte, alles aus Liebe. Sie schmort einsam in der Unterkunft, eine Fremde kurz vor der Abschiebung, und sie rächt sich aufs Böseste an Jason — sowie an ihren Kindern.

 


Medea, für manche die erste und radikalste Feministin, ist rätselhaft und zu allen Zeiten aktuell. War es auch für Hans Henny Jahnn (1894–1959). Der polyamorös und tiefenpsychologisch interessierte Orgelbauer aus Norddeutschland schrieb in den 20er Jahren eine Medea-Bearbeitung, voller Inzest, Traum- und Triebleben; selten gespielt, vielleicht weil sie etwas sperrig ist. Am Schauspiel Köln ist sie gerade in der Regie von Robert Borgmann zu sehen.

 


Vernunft spielt darin eine sehr untergeordnete Rolle. Was sich hier — freilich vor allem in Dia­logen — durcheinander wälzt, ist Körper­material. In Aufruhr gerät es durch Jason: Durch sein Geschenk der ewigen Jugend und Libido, die ihn von seiner alternden Frau entfremdet, aber sonst vor niemandem Halt machen lässt, auch nicht vor dem eigenen Sohn.

 


Borgmann überführt Jahnns Amoklauf der Triebe in eine eindrückliche Bilderwelt. Es gibt entschleunigte, ritualhafte Szenen: In einer minutenlangen Prozession legt ein Chor der Sklavinnen die Bühne mit Fichtenzweigen aus, dann schreitet Medea darüber, jeder ihrer Schritte extrem verstärkt über Mikro und Lautsprecher. Der Mord an den Kindern wird getanzt vor einer Wand aus Licht. Diese wortlosen Momente reinen Gefühls sind die intensivsten.

 


Leider sind sie selten. Jahnns erdrückender Text — symbolisch überfrachtet, im Antikenduktus verfasst — ist eher Dichtung als Dramatik, schwer drei Stunden lang durchzuhalten. So ist es ein Abend für hartgesottene Freunde des Theatersports, für den man mindestens eine grobe Kenntnis des Stücks mitbringen sollte.