Foto: Dörthe Boxberg

70  Prozent  Urne

Auf den Kölner Friedhöfen gibt es mehr Platz, weil sich die Bestattungs­rituale ändern. Jetzt sucht die Stadt mit »Kulturraum Kölner Friedhöfe 2025« neue Ideen, was dort neben der ewigen Ruhe noch passieren kann

»Was kann geschehen, um die Aufenthaltsqualität zu erhöhen?«, fragt Dieter Schöffmann. Das klingt makaber, denn es geht um die 55 Kölner Friedhöfe. Aber nicht die Toten sind gemeint, sondern die Lebenden. Als Mitarbeiter der Kölner Freiwil­ligenagentur spricht Dieter Schöffmann Friedhofsbesucher in Holweide an, trifft sich mit Schulklassen in Porz, mit Gläu­bigen auf dem Westfriedhof, mit Senioren in Mülheim oder Freizeitsportlern auf dem Nordfriedhof. Er will wissen: Was ist denkbar, ohne die Trauer und Pietät zu stören? Denn Fried­höfe bieten — um es pietätlos auszudrücken — ein enormes Flächenpotenzial in besten Stadtlagen, das für Bestattungen inzwischen nicht mehr benötigt wird. Angesichts solcher Areale bekommen Investoren Schnappatmung. Doch Manfred Kaune, Leiter des Amts für Landschaftspflege und Grünflächen, zu dem die Friedhöfe gehören, will sich darauf nicht einlassen: »Ich möchte von den 55 Friedhöfen keinen schließen, noch irgendwelche Ecken herausparzellieren«. Kaune spricht vom »Druck auf das Grün« und auch davon, dass es betriebswirtschaftlich anspruchsvoll sei, die rund 480 Hektar der Kölner Friedhöfe komplett zu erhalten. Helfen soll dabei das Konzept »Kulturraum Kölner Friedhöfe 2025«, das bis Ende des Jahres erarbeitet wird. Ein Arbeitskreis wurde schon gegründet. Neben der Stadtverwaltung sind darin die christlichen Kirchen, der Floristenverband, der Bestatterverband, die Friedhofsgärtner und die Steinmetz-Innung vertreten. Alle haben schon Vorschläge zur erweiterten Nutzung der Fried­höfe erarbeitet. Doch die sollen noch unter Verschluss bleiben. Die Erfahrungen aus anderen Städten zeigen, dass Bürger sehr sensibel auf das Thema reagieren. Deshalb wurde die Kölner Freiwilligenagentur beauftragt, Vorschläge der Friedhofsbesucher zu sammeln. Zugleich testet die Stadt in diesem Pilotprojekt ihr neues Konzept zur Öffentlichkeits­beteiligung.

 


Auslöser für diese Befragung sind allerdings die Bürger selbst. Während die Zahl der Toten mit 8.000 pro Jahr in Köln stabil bleibt, erfah­ren die Bestattungsformen einen rasanten Wandel. Manfred Kaune nennt Zahlen: Während es 1977 nur 7 Prozent Urnenbestattungen gab, stieg die Zahl bis 2018 auf 66 Prozent. »Ich gehe davon aus, dass wir in absehbarer Zeit auf 70 Prozent Urne kommen«, so Kaune. Urnenbestattungen benötigen allerdings nur die Hälfte des Platzes einer Sargbestattung. Und mit der Kremierung ergeben sich neue Möglichkeiten wie Bestattungen unter Bäumen, in Friedwäldern, in Kolum­barien, in Rasengräbern oder auf Streuwiesen. Die Gründe dafür sind mentalitätsgeschichtliche Prozesse, die geprägt sind von wachsendem ökologischem Bewusstsein, fortschreitender Säkularisierung oder auch schlicht Fragen nach Grabpflege und Kosten — eine Urnenbestattung ist für die Angehörigen günstiger. Mit den veränderten Bestat­tungs­riten werden auf den Friedhöfen Flächen frei. Kaune nennt keine Zahlen, allerdings kursieren Berechnungen des Instituts für Kommunale Haushaltswirtschaft (Helsa) aus dem Jahr 2015. Danach sollen in Deutschland von 425 Mio. Quadratmetern Friedhofsfläche allein 165 Mio. auf Überhangflächen entfallen. Schwierig ist diese Berechnung jedoch, weil sich die freien Grabfelder wie ein Flickenteppich über den Friedhof verteilen; man spricht daher von »Streulagen«.

 


Auch bei den Friedhofsflächen geht es ums Geld. Martin Venne ist Landschaftsarchitekt mit Schwerpunkt Friedhofs­planung in Kassel. Mehr als 70 Prozent aller Kommunen, hat Venne ermittelt, finanzieren die Kosten ihrer Friedhöfe über Gebühren. »Das kann in Zukunft nicht mehr funk­tio­nie­ren«, sagt er. Es gebe einen »Wettbewerb um die To­ten« — und dementsprechend genügend Angebote, bis hin zur Discount-Bestattung. Doch da auch die frei werdenden Flächen weiter der Pflege bedürfen, muss eine Balance zwischen attraktivem Bestattungsangebot und Kosten­deckung gefunden werden. Das Dilemma zeigt sich auch in Köln. »Wir kommen mit den Gebühren einigermaßen zurecht«, sagt Manfred Kaune vom Grünflächenamt. Allerdings wurde der Zuschuss für die Grünpflege der Friedhöfe im aktuellen Haushalt um 1 Mio. Euro auf gut 3 Mio. Euro erhöht. Manfred Kaune beharrt darauf, dass man in Köln keinen Wettbewerb um die Toten habe. Allerdings, so merkt er stolz an, ließen sich heute 88 Prozent der Kölner nach ihrem Tod auf hiesigen Friedhöfen bestatten, vor zehn Jahren seien es nur 76 Prozent gewesen. »Daran sehe ich, dass wir ein gutes Angebot haben«, sagt Kaune. Die Stadt hat zwar die Kosten für die Urnen und Sargbestattung schon lange angeglichen, hält aber die Gebühren seit 2013 stabil, macht soziale Angebote und hat die Palette der Bestattungs­formen ausgebaut: Baumbestattungen — laut Kaune »das Erfolgsmodell der letzten Jahre« — sind auf dem Ostfriedhof möglich; es gibt Urnengräber ohne Pflegeverpflichtung oder Naturwaldbestattungen. Demnächst sollen noch Kolumbarien in Trauerhallen auf Melaten und in Brück eingerichtet werden. Für Muslime wurden Grabfelder auf dem Westfriedhof und in Brück geschaffen. Ein Grabfeld für jüdische Kölner ist in Planung.

 


Um Kosten zu senken, wäre eine Flächenkonzentration wichtig. Doch aufgrund der Belegungszeiten bei Gräbern dürfte dies ohne Umbettungen ein Generationenprozess sein. Die Umplanungen des Ohlsdorfer Friedhofs in Hamburg etwa reichen bis ins Jahr 2050, bis dahin soll der größte Parkfriedhof der Welt zoniert werden. Bestattungen seien in Zukunft nur noch in einem von vier Arealen möglich, sagt Heino Grunert, Projektgruppenleiter von »Ohlsdorf 2050«. Auf den restlichen Arealen will man mit neuen Nutzungen experimentieren. Grunert nennt das »aktives Versuchen«. Friedhöfe neu zu nutzen, erfordert viel Fingerspitzengefühl, das weiß auch Manfred Kaune vom Kölner Grünflächenamt. »Ich will keine Eventisierung der Friedhöfe. Sie sollen Orte der Ruhe, der Stille bleiben.« So könnten zukünftige Nutzungen zunächst einmal an die anderen Funktionsbestimmungen des Friedhofs anknüpfen: an die kulturelle Bedeutung als Erinnerungsraum, an die Naherholungs- sowie an die ökologische Funktion.
Unbestreitbar sind Friedhöfe wie alle Grünflächen in dicht bebauten Städten wie Köln wichtig für das Stadtklima. Aber auch für die Artenvielfalt sind sie bedeutsam. Die Verwaltung kooperiert heute schon eng mit dem Naturschutzbund Deutschland (Nabu). Doch Manfred Kaune kann sich weitere Projekte vorstellen, spricht von Obstwiesen und Urban Gardening. Die derzeit nur bis 13 Uhr genutzten 46 Friedhofskapellen könnten wiederum Chören und Musikern als Proben- und Aufführungsorte dienen. Warum nicht ein Skulpturenpark? Und auch als Erholungsraum im durchgetakteten Alltag könnte der Friedhof dienen. Kaune will mehr Bänke aufstellen lassen, kann sich aber auch Boule oder Jogging vorstellen.

 


Doch alles steht und fällt mit den Wünschen und Vorstellungen der Bürger. Es wäre fatal, wenn die Stadt bei der Erprobung ihres neuen Bürgerbeteiligungsverfahrens ausgerechnet bei diesem heiklen Thema die Kölner überfahren würde. Die Kölner Freiwilligenagentur will deshalb ein möglichst breites Spektrum an Besuchern und möglichen Nutzern ansprechen. Am 12. Juni soll die Öffentlichkeitsbeteiligung zudem online gehen, in der letzten Juni-Woche findet dann die Kölner Friedhofswoche mit Veranstaltungen statt, die alljährlich so etwas wie ein Testlauf auf Zeit für neue Nutzungen sind. Dieter Schöffmann sagt: »Wir versuchen nicht, möglichst viele Menschen, sondern ­möglichst viele Perspektiven zu beteiligen.«