»åçThey Shall Not Grow Old«

 

Peter Jackson zeigt in seinem epochalen Dokumentarfilm-Spektakel den Ersten Weltkrieg in Farbe und 3D

 

Das Desinteresse des Kinos unserer Tage am Ersten Weltkrieg lässt sich kaum erklären. Die Kriegsjahre von 1914 bis 1918 veränderten die Welt massiv: Sie wurde schneller, technischer, gefährlicher. Die Menschen jener Epoche machten eine beschleunigte Entwicklung durch, zu der im Vergleich der aktuelle Digitalsprung vermutlich ein Witz ist. Es gibt genug Aspekte dieses Bewusstseinssprungs, mit denen wir bis heute noch nicht ganz zu Rande gekommen sind. Und dennoch: Der Zweite Weltkrieg hat den Ersten ins populärhistorische Abseits verdrängt — natürlich wegen seiner genozidalen Dimension. Für den Zweiten Weltkrieg ist zudem die Frage, wer die Täter und wer die Opfer waren, wer die Helden und wer die Schurken, einfacher zu beantworten.

 


Wie fern uns der Erste Weltkrieg dagegen ist, zeigt Patty Jenkins’ »Wonder Woman« (2017), in dem der fiktionale Stadtstaat ­Themyscira der Amazonen nicht unwirklicher wirkt als die Belgien zerfurchende Laufgräbenödnis des Ersten Weltkriegs. Das ist einer der wenigen großen internationalen Spielfilme der vergangenen Jahre, in dem der Konflikt eine bedeutende Rolle spielt.

 


Doch es gibt noch Peter Jacksons epochales Dokumentarfilm-Meisterwerk »They Shall Not Grow Old«, das vergangenen Herbst zum hundertsten Jahrestag des Waffenstillstands Weltpremiere feierte und nun in die deutschen Kinos kommt.

 


Vorab waren die Reaktionen skeptisch: Dass der Splatterfilm- und »Herr der Ringe«-Regisseur Jackson historisches Material kolorieren und vertonen wollte, klang für viele wie ein Verbrechen an der Geschichte — und dann auch noch in 3D! Doch das verrät nur mangelndes Wissen über die historische Praxis der Filmgestaltung und -präsentation. Schon zur Stummfilmzeit wurden Dokumentarfotografien aller Art auf die verschiedensten Weisen eingefärbt, liefen Dokumentarfilme mit Musik, mal melodisch, mal atonal, die eine Interpretation der Bilder lieferte. Außerdem existieren Massen an stereoskopischen Aufnahmen von den Schlachtfeldern, Gräben, Vorwerken, Latrinenanlagen und Soldaten.

 


Das heißt: Jackson macht nichts mit dem Material, was der Ära fremd gewesen wäre. Auch die Geschichte ist bekannt, doch deshalb nicht weniger wahr(haftig). Schon Geoffrey Malins und John McDowells »The Battle of the Somme« aus dem Jahr 1916 erzählt vor allem vom einfachen Soldaten — bei Jackson ein regelrechter Chor von Stimmen und Erfahrungen: von deren Verpflichtung zum Kriegsdienst über die Grundaus­bildung, das Kasernenleben und den Frontalltag, bis hin zur Gefechtserfahrung. Und schließlich kommt die betäubende Stille des Waffenstillstands.

 


Jackson nimmt die historischen Aufnahmen und erweiterte sie mit Hilfe digitaler Technik kongenial in alle audiovisuellen Dimensionen. Es wirkt, als hätte er einen mit Laien besetzten Spielfilm in den Materialien gefunden, so entsteht unter seiner Regie doch etwas Neues: ein Dokumentarspektakel im Niemandsland zwischen den Genregrenzen. Sympathisch ist, dass der Neuseeländer trotz des gewaltigen Digitalarsenals, dem Zeitfraß seinen Tribut zollt: Hier und da sieht man Wasserschäden und Emulsionszerfall. Da Jackson ein brillanter Filmdenker ist, versteht er, wie man in die Poesie des Zerfalls eintauchen und daraus cinemoralische Lehren ziehen kann.
Mit seinen digitalen Erweiterungen erinnert Jackson daran, dass Geschichte erzählt werden muss. Man findet sie nicht vorgefertigt in Archiven, sie ist vielmehr ein kreativer Akt soziopolitischer Sinnstiftung. Geschichte versteht sich nicht von selbst. Man muss sie immer wieder neu bedenken.

 



(dto) GB/NZ 2018, R: Peter Jackson, 99 Min. Start: 27.6.