Ein Querkopf mit Kamera

Das Museum Ludwig zeigt das Werk des Kölner Fotografen und Künstlers Chargesheimer.

Hans-Christoph Zimmermann über den Chronisten, der sich nie vereinnahmen ließ

Es war kein ästhetischer Feinsinn, sondern politisches Kalkül, das Rudolf Augstein trieb: Kurz vor der Bundestagswahl 1957 meldet sich der Spiegel-Herausgeber bei dem Kölner Fotografen Chargesheimer und bestellt ein Adenauer-Porträt für die Titelseite. Eine Anfrage mit Hintergedanken. Chargesheimer hatte sich mit einer Ausstellung bissiger Nahsicht-Porträts von Kölner Größen sowie dem Band »Cologne intime« einen Namen gemacht. Das Foto des Altkanzlers zeigt ein in Granit gemeißeltes, maskenhaftes Antlitz, das von politischer Versteinerung und Vergreisung erzählt.

Augsteins Rechnung ging nicht auf, Adenauer gewann die Wahl. Das Titelfoto allerdings machte Chargesheimer bundesweit bekannt – und sorgte zugleich für einen Sturm der Entrüstung. Begleitmusik eines Fotografen, der wie nur wenige zu polarisieren verstand. Heute wirkt Chargesheimer allenfalls noch wie eine mythische Figur: bohemienhafter Einzelkämpfer in der bleiernen Zeit der 50er Jahre, sarkastische Schnauze mit Herz, sich verzehrende Künstlernatur – Chargesheimermythen, die jetzt in einer Ausstellung des Museum Ludwig hinterfragt werden sollen.

18 Jahre ist es her, seit in »Chargesheimer persönlich« das Werk letztmals in seiner Heimatstadt öffentlich zu sehen war. Zeit für eine Neubewertung, meint Kurator Bodo von Dewitz: »Es geht darum, Chargesheimer komplexer und als Gesamtfigur sehen zu lernen.« Keine Retrospektive, aber eine Ausstellung, die sich nicht nur den Fotografien, sondern auch seinen Kunstobjekten und seiner Theaterarbeit widmet. Nichtsdestotrotz dürfte Chargesheimer gerade mit seinen Fotos zur Identitätsbildung der Stadt beigetragen haben, indem er – so könnte man psychologisieren – gerade ihre Fehlleistungen und ihr Verdrängtes ins Bild rückte. Vor allem die Fotobücher der Jahre 1957 bis 1961 und 1970 zeigen ein völlig anderes Bild der Stadt als das gewohnte.

Formal folgte Chargesheimer nicht den Gesetzen der Reportage, sondern eher des Essays. Bodo von Dewitz nennt ihn denn auch den »Initiator von Bildbänden mit rein visueller Abfolge von Bildern, die nicht durch Texte beeinflusst wird.« Im Band »Unter Krahnenbäumen« entfaltete Chargesheimer das Panorama kleinbürgerlichen Lebens in der heute komplett verhunzten Straße zwischen Eigelstein und Rheinufer. Er fotografierte Prozessionen, Kirmes, Karneval, Kneipen; man sieht spielende Kinder, tanzende Paare, singende Kneipenbesetzung, Umarmungen von Paaren, oft in Nahsicht, manches unscharf, immer dynamisch. Eine völlig fremde Welt, die genauso gut in Liverpool oder Palermo hätte liegen können. Da Chargesheimer nie ins Private eindringt, ließ sich »Unter Krahnenbäumen« weder als anklagende Elendsreportage noch als Ausweis krakeelender Wir-sind-wieder-wer-Gesinnung vereinnahmen.

»Symbolistische Ruinen­land­schaften wollte man damals
als Allerletztes sehen«


Sowieso: Vereinnahmen ließ sich der 1924 geborene Chargesheimer, der eigentlich Karl Heinz Hargesheimer hieß, nie. Das Verhältnis zum Vater, dem Steuer-Finanzbeamten und überzeugten Nazi Heinrich Hargesheimer, war angespannt. Der querköpfige Individualist studierte Fotografie an der Werkschule in Köln und später in München und ließ sich dort angeblich 1943/44 einen Lungenflügel stilllegen, um der Wehrmacht zu entgehen. Fünf Jahre später plant er sein erstes Buch: Bilder von Kölner Trümmerlandschaften. Natürlich fand Chargesheimer dafür keinen Verleger, erzählt Bodo von Dewitz: »Diese symbolistischen Ruinenlandschaften wollte man damals als Allerletztes sehen.«

In einer zehnjährigen Inkubationszeit arbeitete Chargesheimer als Theaterfotograf in Köln, Essen, Hannover und Hamburg, beschäftigte sich mit Drahtskulpturen und abstrakten Gelatine-Lichtgrafiken, von 1950 bis 1955 war er Dozent an der Bikla-Schule für Fotografie Düsseldorf und übernahm Aufträge für Zeitungen. Es war das bis heute gültige Hin und Her zwischen Brotjob und künstlerischen Projekten – bis zu den Paukenschlägen 1956/57. Neben dem Adenauerporträt war das vor allem eine Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, bei der Chargesheimer nicht ausfixierte Prominenten-Porträts zeigte, die in der Ausstellung plötzlich gelb anliefen, sich verformten und verfielen – beißender hätte ein Kommentar zur aktuellen politischen Lage nicht ausfallen können. Chargesheimer zeigte damit, wie die in der Nazizeit desavouierte Fotografie jenseits von Suggestion und Reportage Stellung beziehen konnte.

Was verband Chargesheimer überhaupt mit seiner Heimatstadt? Bodo von Dewitz glaubt, dass er Köln geliebt hat. Allerdings nicht das offizielle Köln. »Es kommt immer wieder rüber, dass er mit den politischen Verhältnissen nicht einverstanden war, wo alte Seilschaften neu installiert wurden.« Andererseits bestanden die 50er Jahre nicht nur aus Prüderie und Politklüngel. Köln muss damals eine künstlerisch atemberaubend lebendige Stadt gewesen sein. Die Entdeckung des durch die Nazis Verbotenen, die Kulturinstitute der Besatzungsmächte, die neue Musik-, Literatur- und Kunstszene – all das schuf eine Atmosphäre ständiger Befruchtung, in der Chargesheimer sich zu Hause fühlte.

Wie in einem Schaffensrausch entstanden die Bände, die Chargesheimers Ruf festigten. Nach »Cologne intime« und »Unter Krahnenbäumen« 1958 »Im Ruhrgebiet«, das die Bürgermeister im Pott auf die Palme brachte, weil sie ihr geschöntes Stadtbild nicht wieder erkannten. Es folgten »Romanik am Rhein«, »Menschen am Rhein« bis zur 1961 veröffentlichten »Zwischenbilanz«. Chargesheimer hatte sich damit als Künstler aber keineswegs auserzählt. Er wandte sich nur einem neuen Medium, dem Theater, zu. Er inszeniert Stücke von Eugene O’Neill, Jean-Paul Sartre oder Max Frisch. Auch hier kam es zum Skandal. Als er an der Kölner Oper in Luigi Nonos Oper »Intolleranza« abstrakte Lichtgrafiken mit Aufnahmen von Auschwitz überblendet, ist das sogar dem Grandseigneur der Kölner Fotografie L. Fritz Gruber zuviel.

Mit Beginn der Studentenbewegung war Chargesheimers Zeit schlagartig vorbei. Chargesheimer, der sarkastische Moralist und Bohemien, der das Rollenspiel liebte, hatte Kon­kurrenz bekommen. Studentenbewegung plus Hippie- und Popkultur machten den Bohemien zum Massenphänomen. Angesichts des kollek­ti­ven Parka-Individualismus wirkte Chargesheimer mit Schlapphut und Schnauzbart wie ein Relikt. Krankheit und Geldsorgen kamen hinzu. Fortan widmete er sich seinen »Medita­tionsmühlen«, kinetischen Objekten aus Plexiglas, Zahnrädern, surrenden Motoren und Lichtquellen, von denen er hoffte, sie würden irgendwann die Gummibäume in den Wohn­zimmern ersetzen. Revolution im Privaten.

Den Schlusspunkt setzte dann der berühmte Band »Köln, 5 Uhr dreißig«, der nur noch Aufnahmen einer komplett entvölkerten Stadt zeigte. Die leere Nord-Südfahrt, der ausgestorbene Neumarkt, die heruntergekomme Ecke Richard-Wagner-/Moltkestraße. Überall nur Straßen, Plätze, Gebäude sowie Schilder, Ampeln und Absperrungen – Zeugen des Wahns von der »verkehrsgerechten Stadt«. Eine Form der Moderne, die Chargesheimer wohl als lebensbedrohlich empfand. Alexander Mitscherlichs Buch von der »Unwirtlichkeit der Städte« hatte unversehens sein Bildmaterial erhalten. In der Sylvesternacht 1971 ist Chargesheimer dann an einer Mischung aus Tabletten und Alkohol gestorben. »Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.« (Brecht)

Info

Ausstellung: »Chargesheimer. Ein Bohemien aus Köln«, Museum Ludwig , Bischofsgartenstr. 1,
Di-Do, Sa + So 10-18, Fr 11-18,
1. Fr im Monat 11-23 Uhr, 29.9.-6.1.08

Gespräch mit den Fotografen Reinhart Matz, Wolfgang Vollmer und Eusebius Wirdeier: »Chargesheimer würde sich kaputt lachen – der Fotograf in den Augen der folgenden Generation«, Museum Ludwig, Termin unter www.photo-archiv.info