History is now

1969 war nicht nur das Jahr der Mondlandung. In Köln brach Rolf Dieter Brinkmann auf, um das Popuniversum zu erkunden. Johannes Ullmaier schaut mehr als drei Jahrzehnte später die Logbücher noch einmal für uns durch.

Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur« lautet der Titel von Ullmaiers Buch. Aber was ist »Pop« nun eigentlich?, fragen wir naiv.
(Langes Schweigen...) »...es ist eine Lücke, ein leeres, aber grell bestrahltes Feld, um beliebige Sachen zu machen und mit etwas Glück auch zu vermarkten. Eine Lupe, unter die Sachen von irgendwoher reinkrabbeln, kurze Zeit groß sind und dann irgendwann auch wieder rauskrabbeln. Oder rausgestoßen werden von den nächsten.«
Man schlägt sein Buch auf... und das Buch schlägt zurück. Mit einer Flut von Bildern und Zitaten. Zuviel Material, wie manche Kritiker meinten. Ein wenig klein gedruckt im Übrigen. Aber mit einem hervorragend recherchierten und dabei unterhaltsamen Text.
»Dieses Erschlagensein ist vielleicht ein ganz guter Effekt – nicht nur im Sinne von ›Zuviel ist nicht genug‹, sondern weil er auch zeigt, dass die Lesegewohnheiten, was die Buchform betrifft, schon wieder sehr standardisiert sind. Das Buch zitiert ja die berühmte Anthologie amerikanischer Underground-Literatur »Acid« von Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla, die bereits stark mit Bild-Text-Elementen arbeitete. Für ein Sachbuch wie meines ist so etwas vielleicht auffällig, von der Tradition der Avantgarde- und Experimentalliteratur her aber nichts Besonderes.«
Köln steht 2002 im Zeichen von Brinkmann. Zumindest im Literaturhaus. Den Auftakt der Veranstaltungsreihe »Köln, Schnitte« macht Johannes Ullmaier, Mainzer Literaturwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift testcard, mit einem Vortrag zu Brinkmanns Konzept einer »Erweiterten Literatur«. Was meinte dieser Begriff? Mein Gegenüber kaut den Keks, den es zum Kakao gab, erst einmal langsam zu Ende.
»Kekskauen, tja, das wäre eigentlich schon eine adäquate, hyperrealistische Antwort. Statt irgendeinen Diskurs dazu zu bringen, erst einmal kauen – sich unmittelbar einlassen auf die Situation, so wie Brinkmann es in seinem programmatischen ›Acid‹-Nachwort ›Der Film in Worten‹ fordert – und zwar nicht bloß so als Manifest mit den ganzen Schlagworten ›Erweiterung‹, ›Neue Sensibilität‹, ›Attraktivität‹, sondern auch gleich formal umgesetzt, mit Blicken auf die eigene Schreibechtzeit, Abschweifungen, Hinweisen auf Platten, Bücher etc. – eben der Hinwendung zur Sinnlichkeit der Alltagswelt mit ihrer ganzen, eben auch medialen Präsenz. Der deutschen Nachkriegsliteratur der 50er und 60er war dies entglitten, mit einem relativ verholzten, abstrakten Avantgardestrang auf der einen Seite und einer Art reaktionärer Begütigungsliteratur auf der anderen. Brinkmann ging es darum, aus dieser Staubigkeit zu einer neuen Form zu kommen. Doch auch die ganze rigide linke marxistische Schule lehnt er total ab, verstand das aber doch als impliziten Kommentar zum Beispiel zu bestimmten Schweinereien, wie sie in Vietnam passierten.«
Man nimmt sich das Buch noch einmal zur Hand. Ein durchbrochener knallgelber Gitterumschlag, ebenso fragil wie bei seinem Vorbild, der Originalausgabe von »Acid«. Im Hintergrund das Berliner Hotel Adlon. Dorthin zog sich 1999 die junge popliterarische Elite zurück, um eine Woche lang über den Überdruss an der eigenen ironischen Existenz und vieles andere mehr zu räsonieren. Ein Buch namens »Tristesse Royal« war bekanntlich das Ergebnis. Von Acid nach Adlon – der Weg einer Verirrung?
»Das kann man so nicht sagen. Es sind zwei verschiedene Epochen und dazwischen gibt es einen Riss. Beide haben zufällig dasselbe Etikett. Es gibt zwar genealogische Verbindungen, z.B. über Rainald Goetz. Aber worum es in der zweiten 90er-Hälfte bei Kracht, Lebert und Stuckrad-Barre ging, war nicht ›Erweiterung‹, sondern straight erzählte Erlebnisprosa junger Zeitgeistmedienleute. Die waren in ihrem Jahrfünft keinesfalls verirrt, sondern fast schon zu goldrichtig. Höchstens war das Jahrfünft vielleicht insgesamt etwas verirrt – was nicht heißen soll, dass jetzt irgendwas wieder auf dem rechten Weg wäre.«
Aber kann Pop heute, ohne gestrig zu wirken, überhaupt noch subversiv bzw. politisch wirken?
»Das ist immer so die Gretchenfrage der Poptheorie. Es geht ja nicht darum rumzuschmollen und nur Hans Henny Jahnn zu lesen, sondern überhaupt wieder eine grundsätzliche Position zum medialen Mainstream zu erobern, zurückzuerobern. Indem man – wie etwa Kapielski, Wolfgang Müller oder Françoise Cactus – die Kritik erneuert, aktualisiert, zu Pop macht. Da reicht es nicht aus, dem Zentrum des Medienbetriebs in den Medialverstärker reinzubrüllen und sich zu freuen, wie laut das klingt.«
Pop sollte also ein permanenter Versuch sein, Rollen zu hinterfragen, zu unterwandern?
»Zu versuchen, so weit es irgendwie geht, Kontrolle über die Medien-Formate zu kriegen. Eine schwierige Aufgabe, aber ein Reflektionsstand, den man heute haben könnte. Da ist es auch nicht verkehrt, Brinkmann zu lesen.«
Die heutigen Literaturproduzenten tun dies fleißig: von der Mayröcker, Marcel Beyer und Dieter M. Gräf über Stan Lafleur und Thorsten Krämer bis hin zum Nachwuchs am Leipziger Literaturinstitut, und viele andere mehr. Warum eigentlich?
»Zunächst mal wirken seine Texte einfach viel intensiver als viele andere aus der Zeit. Außerdem ist er ein role model für verkannte Undergroundleute, die viele negative Entfremdungserfahrungen mit ihm teilen oder zu teilen glauben – das Grauen, durch die Stadt zu gehen, Pisse zu sehen, Männer, die sich am Sack kratzen, die ganze Scheiße – diese zu spiegeln und auch zu erleiden und damit am offiziellen Literaturbetrieb vorbeizuschrammen. Ich selbst finde aber den werkästhetischen Aspekt wichtiger.«
Brinkmann also als Haltung, nicht als Form. Schnitte durch die Wirklichkeit.
»Aber Schnitte nicht bloß als historisches Cut-Up, sondern in einem weiter gefassten Sinne, im Sinne von ›Ausschneiden aus der Wirklichkeit‹. Nicht sich mit der Schere hinsetzen und Britney Spears ausschneiden und denken das wär’s. Das hinkt im Vergleich zur kulturindustriellen Medienwelt, die ja jeder kennt, immer hinterher. Genauso wie der Versuch, durch irgendwelche perversen Social Beat-Szenarien, wo auf jeder Seite 46mal gekotzt und gefurzt und sich entleert wird, die Bild-Zeitung an Perversion zu toppen. Was meinen wir eigentlich mit Sprechblasen wie ›moderne Medienwelt‹? Wer ist da alles drin? Gehört die StadtRevue dazu, RTL? Wie sieht das unter der Lupe aus? Und darüber sagt man nicht viel, wenn man seine Erlebnisberichte mit Markennamen anfüllt, so zum Wiedererkennen: Ich seh’ die Chipstüte in der Werbung, gehe zum Plus, kaufe sie mir und esse sie – Genau, ich auch! – und schreibe dann ein Buch über das Ganze. Ein in sich geschlossener Kreislauf, der keinen weiterbringt.«
Mit seinen Veröffentlichungen zu Yvan Goll oder der Dissertation »Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne« ist Ullmaier auch hartgesottener Germanist und kennt sich aus im literarischen Geschäft. Was also tun...?
»Es geht jedenfalls um ganz andere Koordinatensysteme. Schnitte setzen als Verfahren, als Denkform, bringt nach wie vor Erkenntnisse und Spaß, in der Kunst wie im sogenannten Leben. Das Popmoment daran hat für mich immer noch etwas mit »Erweiterung« zu anderen Erfahrensräumen zu tun, sei es, dass man wirklich aufbricht, wie Hubert Fichte nach Afrika, oder sei es, dass man das angeblich Vertraute mit der Poplupe so ansengt, dass es entweder Feuer fängt oder aber als Versengtes kenntlich wird – das kann z.B. auch das spezifisch Verkommene am Sprechduktus von Johannes B. Kerner sein.«
In Ullmaiers Buch hat Brinkmann das letzte Wort. Sollte das der Ausdruck einer leisen, aber insistenten Pädagogik sein?
»Mein Buch löst sich am Ende selber auf, versucht, möglichst leise aus sich selbst herauszukommen. Keine Pädagogik. Ich sehe das eher wie eine Strickleiter, die man versucht durch fakirmäßiges Flötenspiel kurz hinzustellen. Für Leute, die versuchen wollen, auf dieser Strickleiter, solange sie steht, irgendwo hinzusteigen, rauf oder runter. Wenn man es schafft, aus diesem grauen Welt-Muff zwei Phasen Grau auszuschneiden und so nebeneinander zu stellen, dass sie schon anders dastehen, ist es schon nicht mehr so trostlos wie vorher.«

Montag, 18. Februar, 20 Uhr. Johannes Ullmaier: »Warum hier haltmachen? Warum irgendwo haltmachen?« Auftaktveranstaltung zum Brinkmann-Jahr im Kölner Literaturhaus.
Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Ventil Verlag, Mainz 2001, 216 S., + CD, 20.40 EUR.