Bei Gelegenheit reich

Erfolg zu haben ist heutzutage ziemlich leicht, so scheint es. In Quizsendungen, Spielshows und TV-Castings können auch die reich und berühmt werden, die sonst wenig Chancen im Leben haben. Ein Essay über ein Phänomen des Medienzeitalters.

Die arbeitslose Bürokauffrau Marlene Grabherr machte erst gar keinen Hehl aus ihrer Unwissenheit. »Ab Frage Zwölf war ich mir bei keiner Antwort mehr sicher!«, gestand die zweite Millionengewinnerin in Günther Jauchs RTL-Show vor kurzem freimütig dem Stern. Bei ihren letzten vier Antworten habe sie schlichtweg auf ihr Glück vertraut und geraten. Eine Strategie, die neuerdings auch außerhalb von Fernsehstudios zunehmend Anwendung findet. Das jedenfalls behauptet der Gießener Soziologe Sighard Neckel. »In unserer gegenwärtigen Marktgesellschaft sind die Erfolgreichsten beileibe nicht nur diejenigen, die die größten Leistungen erbringen.« Da mag der Kanzler noch so lautstark gegen ein »Recht auf Faulheit« wettern: Mit eigener Hände Arbeit wird heute kaum noch jemand reich. Gerade mal 40 Prozent der deutschen Einkommen, schätzen Statistiker, werden überhaupt noch in einem Beruf verdient. Der Rest wird oft genug abgezockt, per Erbschaft, an der Börse oder (angesichts kränkelnder Kurven besonders gern): in der Tombola. Sighard Neckel attestiert einen Wandel weg von der Leistungsgesellschaft hin zu einer Gelegenheitsökonomie. »Das beginnt bei Prominenzmärkten, bei Schönheitswettbewerben, bei Quiz-Shows«, diagnostiziert er und empfiehlt: »Hören Sie Radio! Permanent werden Sie aufgefordert, irgendetwas gewinnen zu sollen, so dass in der Gesellschaft der Eindruck entstehen kann: Wer berufstätig ist, ist eigentlich ziemlich der Dumme!«

Glücksritter des Augenblicks

Im aufgebrochenen Kosmos von Internet und Globalisierung sind Trends schwer vorauszusagen. Steiler und unvermuteter als zuvor sausten die Gewinnkurven des Neuen Marktes nach oben. Und krachten ebenso steil und unvermutet wieder zu Boden. Auch wenn manche konservativen Ökonomen in Folge des Crashs wieder zu alten Werten zurückkehren wollen, gilt: Fleiß lohnt sich angesichts solcher Dynamiken nicht und Wissen ist schnell veraltet. Statt dessen sind Spielerqualitäten gefragt. Heute muss man Surfen können und nicht mehr geduldig Tellerwaschen. Heute sollte man ein »Switcher« sein. Leichtmütig, leichtfüssig und schnell, überall hingereist und nirgendwo verwurzelt – und: keinesfalls ernsthaft. Denn sonst riskiert man den Spieleinsatz nicht. »Was man auf jeden Fall vergessen sollte«, rät einem Jauchs erster Millionengewinner, der Geschichtsprofessor Eckart Freise, »ist, dass es um richtiges Geld geht. Man muss versuchen, auf dem spielerischen Level zu bleiben. Nur dann hat man eine Chance!«
Wer sich allzu ausgiebig in Inhalte vertieft und lange vorbereitet, wird bereits am Start überholt. Was zählt, ist allein die Gunst der Stunde. Die darf man nicht verpassen. Wie man sie nutzt, wird immer seltener hinterfragt. Die Methode hat bereits die Schulen erreicht. Lehrer bereiten ihren Unterrichtsstoff mittlerweile quiztechnisch auf. Frei nach dem Michael-Schanze-Motto peppen sie ihre Fragen auf: »Wer gewann den 1. Punischen Krieg? Du musst dich entscheiden – drei Felder sind frei.« Doch wozu auch lange pauken, wenn es mitunter hilfreicher sein kann, einen Schlager von Madonna zu kennen als Musils »Mann ohne Eigenschaften«?! In einer Gesellschaft, in der ein Überschuss an Informationen längst zum Hauptkennzeichen gehört, muss jeder Kanon zwangsläufig ins Wanken geraten. So hat das Bildungsbürgertum seine Hoheit an die Glücksritter des Augenblicks eingebüßt, die weder Shakespeare kennen müssen, noch sich für ihre Bildungslücken zu schämen brauchen. Die Zockergemeinde des Neuen Marktes, in der sich eine Erbengeneration tummelt, die vagen Prognosen zur Folge bald über 5,5 Billionen Mark verfügen wird, fragt nicht nach alten Klassencodes. Ihr ist es gleichgültig, ob man sein Vermögen nun bei Jauch oder mit Yahoo-Aktien gemacht hat. Hauptsache man ist zahlungskräftig. So gibt es die paradox anmutende Situation, dass einerseits die Arbeitsstellen immer knapper werden, während sich andererseits die Zufallsgewinne häufen.

Vom No-Name zum Sterntaler

Niemals zuvor war es so leicht, reich und berühmt zu werden. das deutet schon die Vornamendichte in der VIP-Lounge an. Ob Verona, Alex oder Jenny: Der Star ist zum Kneipenkumpel degradiert. Und niemand erwartet von ihm noch, dass er irgendetwas besser kann oder macht als sein Fan. Im Gegenteil. Stefan Raab, Guildo Horn oder Verona Feldbusch verdanken ihre Berühmtheit gerade nicht besonderen Leistungen. Sie verdanken sie dem permanent falschen Gebrauch des Dativs und Quatsch-Refrains wie »Wir kiffen«.
Die einen wie RTL-Chefredakteur Hans Mahr begrüßen diesen Trend als eine Demokratisierung des Promi-Himmels. Die anderen wie der Journalist Jochen Hörisch sehen darin eher eine Banalisierung des Heldentums. »Prominente sorgen, weil sie so prominent wie inkompetent sind, bei vielen nicht prominenten Inkompetenten für Entspannung«, frotzelt Hörisch. Wenn der Comedy-Hype nun auch abflaut, eine neue Ernsthaftigkeit hat sich allen Prophezeiungen nach dem 11.9. zum Trotz nicht eingestellt und in den Quiz-Shows zeigt sich der Wandel der Erfolgskriterien weiterhin deutlich. Heutzutage reicht unter Umständen bereits die physische Anwesenheit, um Millionär zu werden, beispielsweise in »Die Lottoshow«. Erfolg ist zum Roulettespiel avanciert, und Glück das einzige Auswahlkriterium. Der Soziologe Neckel spricht sogar schon von einem regelrechten »Privileg, Leistung erbringen zu dürfen.« Ein Privileg, das einen allerdings teuer zu stehen kommen kann. 4.200 Mark brutto erhält beispielsweise ein Altenpfleger im Monat. Wer mag es ihm verdenken, wenn er sein Gehalt mit einer Pilawa-Frage der Güte »Was bedeutet das spanische Wort ›Amigo‹ auf deutsch?« quasi im Schlenkergestus verdoppelt?!
Wo die Schere zwischen schlecht entlohnter Leistung und gut bezahlter Spielfreude derart weit auseinander klafft, steigt der Kandidatenansturm ungebrochen, mögen die Zuschauerquoten im Einzelfall auch noch so rapide sinken. Beim Spitzenreiter »Wer wird Millionär« kann es da vorkommen, dass an einem Wochenende 800.000 Bewerber anrufen. Ganz zu schweigen von den Internetnutzern. Regelmäßig, so hört man aus der RTL New Media-Redaktion, brechen hier die Server zusammen: zu viele Mitspieler. Alle möchten es auf den Ratestuhl schaffen, dem in der säkularen Postmoderne eine pseudo-religöse Aura anhaftet. Der Quizmaster wirkt dabei als eine Art Schicksalsstifter, der über Nacht No-Names zu Sterntaler-Mädchen erhebt.

Der Selfmademan 2002

Indes, mag man fragen, unterlag der soziale Aufstieg nicht von jeher der Willkür? Neckel bestreitet das nicht. »Natürlich war das Leistungsprinzip der Nachkriegsgesellschaften immer ungerecht, so wie es angewandt wurde«, räumt er ein. »Aber es trägt einen idealen Maßstab in sich. Leistungen erfordern Gegenleistungen. Man tritt in Verhandlungen miteinander ein und stellt sich die Frage, ob das, was man erhält, auch gerecht ist.« Während die Konvention der 70er und 80er Jahre zumindest nach außen hin noch ein sozial verträgliches Auftreten von Karrieristen verlangte, ist der Gutmensch-Gestus im letzten Jahrzehnt völlig aus der Mode geraten. Der Selfmademan 2002 trägt seine Schlitzohrigkeit skrupellos zur Schau. Im Beruf ebenso wie im Quiz. Wenn ein Spieler heute überhaupt noch mit jemandem zusammen im Team auftritt, wie in der »Quiz-Show«, dann, so Showmaster Jörg Pilawa, nur deshalb, weil »zwei Menschen nicht unbedingt doppelt so viel wissen wie einer«.
Die Aufgabe des Moderators besteht vor allem darin, den einen gegenüber dem anderen Kandidaten zu verunsichern. Der Helfer ist in dieser Lesart zum Hemmschuh degradiert. Besser man bedient sich seiner - wie in der Jauch-Show - nur noch als Joker und entsorgt ihn schnellstmöglich wieder. Erfolgreiche, deren Erfolg sich ausschließlich dem Zufall verdankt, fühlen sich nun einmal niemandem gegenüber verpflichtet. Im Falle einer Niederlage bietet sich ihnen jedoch auch kaum Trost. Denn wenn prinzipiell jeder ein Gewinner sein kann, kann nichts einen Misserfolg lindern. Ausreden wirken dann nicht mehr. Genau darin aber liegt für Neckel die spezielle Brisanz der Entwicklung: »Wenn eine Gesellschaft den Eindruck vermittelt, dass für das persönliche Weiterkommen die eigenen Anstrengungen, das eigene Wissen, die eigenen Leistungen eigentlich keine Rolle mehr spielen, sondern nur die Frage, ob man zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle ist«, resümiert er düster, »dann wird sich auch Neid nicht mäßigen können, sondern schlägt in Wut um. Dann wachsen natürlich die Aggressionen. Und ich glaube, dass wir das auch beobachten können.«