Norwegisch Psycho

Ihre Familie stammt aus Norwegen, aufgewachsen ist sie in Minnesota, ihre Autorenkarriere begann in New York. Heute lebt Siri Hustvedt mit Ehemann Paul Auster in Brooklyn und hat nach der Coming-of-Age-Geschichte »Die Verzauberung der Lily Dahl« und dem Bestseller »Was ich liebte« jetzt ihren dritten Roman vorgelegt – und damit ihr vielleicht persönlichstes Buch.

Hustvedts Hauptfigur ist der geschiedene New Yorker Psychoanalytiker Erik Davidsen, damit ist das Thema gesetzt: Es geht um Verletzungen, sichtbare und vor allem unsichtbare, und um die Fragilität dessen, was wir »Ich« nennen. Daraus macht Hustvedt kein belehrendes Psycho-Buch, sondern einen ziemlich rasanten Familienroman über die Schicksale dreier Generationen einer norwegischen Einwandererfamilie, in dem der Analytiker von der eigenen Einsamkeit und Aggression eingeholt wird.

In uns wohnen Geister

Die Handlung kommt ins Rollen, als Erik, seine Schwester Inga und die Mutter im Nachlass des Vaters auf Spuren der offiziellen und inoffiziellen Familiengeschichte stoßen. »Wir alle haben Geister in uns«, heißt es am Anfang des Romans, »und es ist besser, wenn sie reden, als wenn sie es nicht tun«. Also sollen sie sprechen: Vater und Großvater mit ihren Kindheitserinnerungen an das Landleben, ihren Kriegs­traumata; Inga und ihr berühmter Ehemann samt unehelichem Kind; Eriks Nichte Sonja, die seit 9/11 nachts Bilder in die Tiefe stürzender Menschen im Kopf hat. Und dann sind da noch all die Nebenfiguren aus Eriks Leben und Beruf, insbesondere Miranda, seine Untermieterin, und ihr Ex: ein Borderliner, der seine Abgründe karriereträchtig künstlerisch kanalisiert – eine typische Hustvedt-Figur.

Literatur und Psychoanalyse

»Die Arbeit in der Psychoanalyse kann Geister zu Vorfahren werden lassen.« Diesen Satz legt Hustvedt Eriks kluger Supervisorin in den Mund. Er zielt ins Zentrum dieses düsteren Romans, der versöhnt ohne versöhnlich zu sein, weil er auf die Akzeptanz individueller Geschichten zielt. Dabei legt Hustvedt – das ist ihr Coup – den gemeinsamen Kern der Literatur und des freien Assoziierens in der Psychoanalyse frei: die Kraft des Erzählens.

»Die Leiden eines Amerikaners« enthält auch Hustvedts eigene Familiengeschichte, doch das erfährt man erst in der Danksagung – und ist plötzlich seltsam getroffen. Die zwischengeschalteten Aufzeichnungen Lars Davidsens sind die ihres eigenen Vaters, die er ihr kurz vor seinem Tod zur Verfügung stellte. Diese Autorin versteht es offenbar, selbst den persönlichsten Stoff in brillante Literatur zu verwandeln.


Infos

Siri Hustvedt: Die Leiden eines
Amerikaners. Rowohlt, Reinbek 2008, 416 S, 19,90 €.

Lesung: 8.4., Kulturkirche Nippes, 20 Uhr (zweisprachige Lesung, den dt. Text liest Boris Aljinovic)