Foto: Manfred Wegener

»Zu uns kommt keiner mit einem Schnupfen«

Die Malteser Migranten Medizin behandelt seit drei Jahren Menschen ohne Krankenversicherung –

mittlerweile suchen auch immer mehr Deutsche dort medizinische Hilfe

 

Ein schmaler Pfad führt zu dem Flachbau neben dem Hildegardis-Krankenhaus in Lindenthal. Der Eingang ist schmucklos, nur ein kleines Schild weist den Weg: Malteser Migranten Medizin (MMM). Wer in diese Praxis kommt, möchte unerkannt und unentdeckt bleiben. Als die Beratungsstelle vor drei Jahren eröffnete, suchten vor allem Menschen ohne Papiere dort medizinische Hilfe. Inzwischen ist der Name Malteser Migranten Medizin nicht mehr ganz zutreffend – mehr als ein Viertel der Patienten haben einen deutschen Pass.
So wie Lukas. Seit zwei Jahren fühlt er sich krank: »Chroni­sche Magenbeschwerden, Schlaflosigkeit, Panikattacken«, zählt er schnell hintereinander auf. Beim Arzt ist er trotz der Beschwerden nicht gewesen – denn er lebt seit zwei Jahren ohne Krankenversicherung. Als Selbstständiger in der EDV-Branche war er freiwillig bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert. Anfang 2006 blieben dann die Aufträge aus, er zahlte zwei Monate lang die Beiträge nicht, die Kasse kündigte, anschließend nahm man ihn nicht wieder auf. »Ein Albtraum«, sagt der 26-Jährige, dem die offenen Worte nicht leicht fallen. »Das hat so was von sozialem Abstieg.«
Einmal pro Woche, immer donnerstags, behandelt der pensionierte Internist Dr. Herbert Breker Menschen wie Lukas – kostenlos, anonym und in akuten Notfällen. »Ich hätte nie gedacht, dass so viele Deutsche kommen«, sagt der ehemalige Chefarzt der internistischen Abteilung des Bens­berger Krankenhauses.

Erschreckend viele fallen durchs soziale Netz: Selbstständige, die am Existenzminimum leben und sich am Monatsende für die Miete und gegen die Kran­kenversicherung entscheiden. Geschiedene, die bei ihrem Ex-Partner mitversichert waren. Studenten, die ab einem gewissen Alter aus der Familienversicherung fliegen. Menschen, die lange Zeit im Ausland lebten und nach Deutschland zurückkehren. Oder Arbeitslose, die ohne Trauschein mit einem Partner zusammenleben, der Einkommen oder Vermögen hat. »Die im Zuge der Hartz-IV-Reform eingeführten Bedarfsgemeinschaften sind die neue Risikogruppe«, betont Breker. Auch Lukas zählt zu den Verlierern der Hartz-Gesetze. Er ist seit zwei Jahren erwerbslos, bekommt aber kein Arbeitslosengeld II: »Das Bruttoeinkommen meiner Freundin liegt genau dreißig Euro über dem Satz für Bedarfsgemeinschaften.« Eine An­gestellte der Arbeitsgemeinschaft (Arge) habe ihm geraten, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen – dann hätte er Anspruch auf Hartz IV. »Völlig unverschämt«, findet Lukas.

Im April 2007 schöpfte der 26-Jährige neue Hoffnung – für kurze Zeit. Seitdem sind die gesetzlichen Krankenkassen im Zuge der Gesundheitsreform, und ab 1. Januar 2009 auch die privaten, dazu verpflichtet, ehemalige Mitglieder wieder aufzunehmen. Lukas muss sich seinerseits auch versichern. Das System hat allerdings einen Knackpunkt: Bei Wiedereintritt muss zuerst eine Prämie der versäumten Monate gezahlt werden, rückwirkend bis zum April 2007. Bei den gesetzlichen Krankenkassen liegt der Mindestbeitrag für freiwillig Versicherte bei monatlich rund 250 Euro. Die strenge Auflage kann Lukas nicht nachvollziehen: »Das sind für mich mittlerweile 3000 Euro. Wie soll ich die denn bezahlen?«

211.000 Menschen ohne jegli­chen Krankenversicherungsschutz zählte das Statistische Bun­desamt Anfang 2007 – Experten schätzen die Dunkelziffer höher. Das Bundesgesundheitsministerium geht aktuell von 100.000 Betroffenen aus, die anderen seien durch die neue Gesetzeslage wieder bei ­ihren alten Kassen untergekommen. Der Arzt Breker hat in seiner Praxis davon bislang noch nichts gespürt: »Wir bemerken keinen Rückgang.« Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr haben Breker und sein Team – drei Ärztinnen und eine Krankenschwester – 400 Menschen behandelt, in diesem Jahr rechnen sie sogar mit 500. Schuld daran sei vor allem die Zunahme prekärer Arbeitsformen wie geringfügige Beschäf­tigung, Outsourcing-Modelle oder Zeitarbeit.

»Die Angst zu wissen, dass ich kein Geld für den Arzt habe, macht mich völlig fertig. Ich denke immer sofort an etwas Schlimmes, Krebs oder so. Dann versuche ich es aber doch mit Selbst­diagnose und Drogerieartikeln«, sagt Lukas. Aus Angst aufzufliegen oder aus Scham warten die Patienten viel zu lange, bevor sie die MMM-Praxis aufsuchen. »Zu uns kommt keiner mit einem Schnupfen. Das sind alles Härtefälle«, weiß Breker.