Stille Größe

Als »Half Nelson« bezeichnet man einen Genickhebel. Eine Technik, um den Gegner beim Ringen in die Rückenlage zu zwingen. In vergleichbar prekärer Situation befindet sich Dan Dunne (Ryan Gosling), Lehrer für Geschichte und Sport an einer High School in Brooklyn. Tags ein engagierter Pädagoge, beliebt und belastbar, nachts ein Süchtiger auf Crack und Koks.

Die 13-jährige Drey (Shareeka Epps), eine seiner Schülerinnen, findet Dunne am Abend nach einem Basketballspiel in der Mädchentoi­lette, völlig stoned, kaum ansprechbar. Der Vorfall könnte das Ende seiner Berufslaufbahn bedeuten. Aber Dunne kann sich darauf verlassen, dass Drey schweigen wird. Drogen schaffen in dieser Gegend verschworene Gemeinschaften. Er ist Konsument, ihr ist der Weg zur Kleindealerin vorgezeichnet.

Distanziert und Nah zugleich

In der bloßen Nacherzählung verspricht die Story wenig Spannung. Sie ist aber ein genuiner Filmstoff, der in Dialog und Bild, vor allem in der Verkörperung durch die hervorragenden Schauspieler, seine eigentliche Qualität entfaltet. Nüchtern folgt die Kamera den Protagonisten, immer eng bei den Figuren, die dennoch fern bleiben, wenig preisgeben von sich und ihrem Vorleben. Meist aus der Hand fotografiert, ohne aufwändiges Licht, fühlt man sich gelegentlich an dänische Dogma-Filme erinnert. Der spröde Stil ist eher durch das schma­le Budget einer Independent-Produktion vorgegeben als durch ideologischen Vorsatz. Aber er passt zur geschilderten Situation.
So wird man aus nächster Nähe doch nur distanzierter Zeuge einer vorsichtigen, wortkargen Annäherung zwischen Lehrer und Schülerin. Ein verbrüderndes Augenzwinkern von ihm während des Unterrichts, kindliche Verschlagenheit ihrerseits bei dem Versuch, den Lehrer zum Vertrauten zu machen.

Auf der Basis eines gemeinsam produzierten Kurzfilms realisierten Regisseur Ryan Fleck und Drehbuchautorin Anna Boden ihr Spielfilmdebüt. Sie lassen keinen Verdacht auf unterschwellige sexuelle Motive aufkommen. Freundschaft wächst allein aus gegenseitiger Verantwortung, die vor allem Dunne zunächst nicht akzeptieren will.

Ryan Gosling (»Lars und die Frauen«, »Das perfekte Verbrechen«), für seine Rolle oscarnominiert, wahrt als Dunne auch in kompromittierenden Situationen ein Höchstmaß an Würde und Selbstsicherheit. Seine Darstellung liefert keinen Anlass zu Mitleid mit der Figur. Deren Sucht wird nicht auf Ursachen zurückgeführt, weder in der Biografie noch im sozialen Umfeld. Sie erscheint als statistisches Risiko, das jeden treffen kann. Die junge Shareeka Epps steigt souverän auf dieses reduzierte Spiel ein, das mehr auf kleinen Gesten gründet als auf großen Gefühlsausbrüchen.
Keine stereotypen Bilder von Gewalt charakterisieren das Dealermilieu: Dogenhandel ist eine Dienstleistung. Dreys kriminelles Umfeld zeigt sogar Züge von Geborgenheit. Das wirkt zynisch, schafft aber gerade so den Hintergrund für das glaubwürdige Szenario einer Beziehung, die wenig Worte, aber viel Vertrauen braucht, um gegen nahe liegende Vorurteile riskiert zu werden. Ein Film von buchstäblich stiller Größe.




Half Nelson (dto) USA 06, R: Ryan Fleck,
D: Ryan Gosling, Shareeka Epps, Anthony Mackie, 110 Min. Filmpalette, ab 8.5.