Universal Shtetl

Der Name führt in die Irre. Oi findet sich normalerweise nur in Bandnamen von Musikern, die Oi-Punk spielen – ein Genre, das mit allem Erdenklichen, nur nicht mit Klezmer in Verbindung gebracht werden kann. Oi Va Voi aus London haben ihren Namen allerdings aus dem Jiddischen entlehnt, wo er so viel bedeutet wie »Ach Gott«, ein Aufruf des Entsetzens und Staunens. Mit Oi-Punk gibt es nur eine Gemeinsamkeit, nämlich die Vorliebe für Ska. Das ist bei Oi Va Voi kein Zufall, denn der für Ska typische Offbeat findet sich auch in der osteuropäischen, von jüdischen Einflüssen geprägten Folklore.

Bunter Stilmix

Doch Ska ist nur ein Element unter vielen, die diesen Stilmix ausmachen. Oi Va Voi verbinden traditionelle Klezmer-Musik mit allen erdenklichen Zutaten, darunter Reggae, Punk und Dubstep, aber auch mit längst verschollen geglaubten Genres wie Acid-Jazz, Drum’n’Bass und Triphop. Ein Anachronismus? – nicht unbedingt. Lange vor Beirut und A Hawk And A Hacksaw hat die in den späten 90er Jahren gegründete Band bereits Balkan-Pop gespielt. Mit dem Unterschied, dass Oi Va Voi stets die jüdische Tradition ihrer Musik in den Mittelpunkt stellen, während die Balkan-Elemente bei ihren jüngeren Kollegen oft seltsam entkontextualisiert, manchmal sogar exotistisch wirken.

Trompeter Jonathan Walton, Klarinettist Steve Levi und die Violinistin Sophie Solomon haben sich an der Universität von Oxford kennen gelernt und festgestellt, dass alle aus jüdischen Familien stammen. Ihr 2002 im Eigenverlag erschienenes Debüt trägt den eigenwilligen Stil bereits im Titel: »Digital Folklore«, die Verbindung traditioneller jüdischer Musik mit zeitgenössischen Clubsounds. Vier Jahre später finden sich Oi Va Voi auf »Shtetl Superstars« wieder, einer Compilation des Münchner Labels Trikont, mit dem gleich eine ganze Bewegung ausgerufen wird: »Funky Jewish Sounds From Around The World.« Die Herausgeber, Lemez Lovas und Yuriy Gurzhy, sprechen von einer neuen Generation, die nach dem Klezmer-Revival in den 70ern aufgewachsen ist und keine Berührungsängste mit Punk, HipHop oder House hat.
So neu ist das allerdings gar nicht.

Auf seinem »Tzadik«-Label etablierte John Zorn bereits Anfang der 90er ein eigenes Genre mit dem Titel »Great Jewish Music«, für das so unterschiedliche Musiker wie Kramer, Steve Lacy, Marc Ribot und Erik Friedlander jüdische Musik mit Free-Jazz, Hardcore-Punk, Industrial oder Prog-Rock vermischten. Untermauert wurde diese Reihe mit einem Manifest zur »Radical Jewish Culture«, in dem John Zorn schrieb: »Der Jude ist immer Ursprung einer doppelten Infragestellung gewesen: der Infragestellung des Selbst und der Infragestellung des ›Anderen‹.« Aufgrund des ständigen Zweifels, schlussfolgert Zorn, haben sich Menschen jüdischer Herkunft stets zu radikalen künstlerischen Positionen hingezogen gefühlt, unter anderem zu Free Jazz und Punk. Es sei endlich an der Zeit, die eigene Herkunft nicht mehr zu verschleiern, sondern in der Musik kenntlich zu machen.

Es sollte wiederum zehn Jahre dauern, bis der amerikanische Musikjournalist Steven Lee Beeber in seinem Buch »The Heebie-Jeebies at CBGB’s: A Secret History of Jewish Punk« (2006) den Beweis antrat, dass zahlreiche Pioniere des Punk jüdischer Herkunft waren, darunter Joey Ramone, Chris Stein (Blondie), Jonathan Richman und Patti Smith. Seine Liste reicht bis zu den Beastie Boys und Jello Biafra von den Dead Kennedys. Er erklärt sich dieses Phänomen ähnlich wie John Zorn: Die Post-Holocaust-Generation habe quasi automatisch einen Außenseiter-Stil wie Punk hervorbringen müssen.

Wechselspiel von Tradition und Modernismus

Von Außenseitertum und Des­illusionierung ist in der Musik von Oi Va Voi jedoch nicht mehr viel zu spüren. Vielleicht handelt es sich bei den »Shtetl Superstars« ja tatsächlich um die erste Generation jüdischer Musiker nach dem Holocaust, die ihre eigene kulturelle Tradition ganz selbstverständlich in Pop einfließen lassen, ohne sich dabei als Ausgegrenzte zu fühlen. Die Erfahrung der Diaspora schwingt auch in ihrer Musik mit, doch sie scheint als Chance und nicht als Verlust angesehen zu werden. Schließlich sind Entwurzelung und die Durchdringung verschiedener kultureller Einflüsse stets Voraussetzung für eine Weiterentwicklung im Pop gewesen. Oi Va Voi fangen die jüdischen Wanderbewegungen in ihrer Musik ein, die dafür gesorgt haben, dass Klezmer nie eine statische Musik gewesen ist. Das­selbe gilt für die Wanderbewegungen des Pop, man denke nur an den nachhaltigen Eindruck, den die Düsseldorfer Kraftwerk in der schwarzen Detroiter Techno-Szene hinterließen. Auf diese Weise spiegelt sich in der Musik von Oi Va Voi das Wechselspiel von Tradition und Modernismus wider, die ständige Neuverformung von überliefertem Wissen.

Während Gruppen wie die New Yorker Klezmatics in den 80ern noch Pionierarbeit leisten mussten, um jüdische Musik im Pop-Kontext wieder hoffähig zu machen – was in den 20er noch gang und gäbe war -, können Oi Va Voi auf eine vielfältige Tradition des Jewish Pop zurückgreifen. In ihrer Heimatstadt London ist die Band dennoch eine Ausnahme. »Eine jüdische Musikszene, die diesen Namen verdient, gar eine Klezmer-Szene hat London nicht hervorgebracht«, schrieb Daniel Bax in der Zeit. Insofern ist es nur konsequent, dass Oi Va Voi ihr offizielles Debüt »Laughter Through Tears« 2003 auf »Out­caste Records« veröffentlich­ten, einem auf Asian Underground spezialisierten Label. Es markiert eine Lücke und positioniert sich zugleich als jüdische Antwort auf Bands wie Fun-Da-Mental und Asian Dub Foundation.


So 22.6. Summerstage 2008 – London Crossing, Tanzbrunnen, Beginn 15 Uhr. Mit Transglobal Underground, Swami,
Oi Va Voi, Mattafix, www.summerstage.de

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