Liebenswerte Fanatiker

Brillant und bezaubernd: Mit »Die Royal Tenenbaums« entkommt Wes Anderson der Ironiefalle. Sven von Reden musste trotzdem lächeln.

 

Kann etwas so gut sein, dass es schon wieder schlecht ist? Liest man amerikanische Besprechungen von Wes Andersons drittem Regiewerk »The Royal Tenenbaums« so scheint es, als hätten ein paar Kritiker Susan Sontags berühmten, aber mittlerweile arg verschlissenen Leitsatz der Camp-Ästhetik: »Es ist gut, weil es fürchterlich ist«, einfach umgekehrt und runderneuert in den Kanon der Popkulturkritik zurückgeführt. Ja, der Junge ist talentiert, aber muss er das auch allen so deutlich unter die Nase reiben? Sind seine Figuren nicht doch nur einfache Archetypen? Hat der Film überhaupt eine Story? Erstickt nicht alles in Niedlichkeit? Besonders sarkastisch äußerte sich der Rezensent der New York Times A.O. Scott »... ›Die Royal Tenenbaums‹ entlocken einem eine genervte Bewunderung. Ja, ja, du bist reizend, du bist brillant. Und jetzt sag Gute Nacht und geh zu Bett.«
Anderson erzählt eine einfache Geschichte, mit schwierigen Hauptfiguren. Die Tenenbaums sind eine Familie von Genies und Exzentrikern, die es nicht lange gemeinsam unter dem Dach ihres Hauses in New York aushalten. Als erster verlässt der Patriarch Royal Tenenbaum, ein erfolgreicher Advokat und Lebemann, das Anwesen, nach und nach folgten die drei Kinder: Richie, der Tennisstar, Margot, die gefeierte Autorin, Chas, das Finanzgenie. Nur die Mutter Etheline, eine Archäologin, bleibt im verwinkelten Haus zurück. Alleine, aber nicht ohne Verehrer. Doch als die Kinder in ihren Dreißigern sind und alle nicht mehr mit ihren Neurosen und Problemen zurechtkommen, zieht es sie nach und nach wieder zurück ins Elternhaus. Zu Guter letzt versucht auch Royal, pleite und einsam, unter dem Vorwand bald an Magenkrebs zu sterben, wieder Aufnahme zu finden. Die Rückkehr des Patriarchen führt dazu, dass alte Wunden und Konflikte wieder aufbrechen. Am Ende mögen zwar nicht alle ihr Glück gefunden haben, aber fast alle haben gelernt, besser mit ihrem Leben zurechtzukommen – die Familie ist der Ort, an dem Probleme entstehen, aber auch der, wo sie gelöst werden können.
Im ersten Moment liegt die Pointe nahe, dass »Die Royal Tenenbaums« ein Film von Max Fischer sein könnte, jenem 15-jährigen Helden aus Andersons letztem Film »Rushmore«, dessen rastloses Überengagement – von den Bienenzüchtern bis zur eigenen Theatergruppe – ihn von seinen Mitschülern entfremdet, ihm aber nicht die ersehnte Liebe seiner Lehrerin einbringt. Wie Fischers detailversessene Theateradaptionen von Hollywoodklassikern, so ist Andersons Film bis ins letzte Ausstattungsteil, Kleidungsstück und jeden Musikeinsatz hinein perfekt durchgearbeitet. In den überbordenden Inszenierungen offenbart sich der Kontrollwahn liebenswürdiger Fanatiker. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied, den Kritiker wie Scott offenbar übersehen: Fischers Problem ist seine völlige Unfähigkeit zur Selbstdistanz, daher bleiben seine Schwärmereien und Leidenschaften letztlich naiv; Anderson dagegen mag zur Selbstverliebtheit neigen, aber er besitzt ein feines Gespür für das Verhältnis von Ironie und Selbstironie.
Hier macht der Bezug auf Susan Sontags »Notes on Camp« (1964) mehr Sinn, entspricht diese Differenz doch genau ihrer Unterscheidung von »naivem« und »gewolltem« Camp. Mit seiner Neigung, das ganze Leben als große Theaterbühne zu sehen, seiner unbedingten Ernsthaftigkeit und durch sein grandioses Scheitern verkörpert Fischer das, was Sontag als »naiven Camp« bezeichnet. Das bewusste Spiel mit Camp-Elementen ist für Anderson dagegen ein Mittel, um seine Geschichten über selbstgewählte oder – im Falle der Tenenbaums – echte Familien zu erzählen ohne dabei in den tränenselig-moralisierenden Ton des Hollywood-Melodrams oder den Zynismus der Familienfilmdekonstruktionen wie »American Beauty« und »Happiness« zu verfallen.
Aufgebaut ist »Die Royal Tenenbaums« wie ein Roman mit Prolog und verschiedenen Kapiteln, als handele es sich um eine Literaturverfilmung und auf der Leinwand entfalte sich die Imagination eines Lesers. Auch wenn Anderson zusammen mit seinem Freund Owen Wilson (Darsteller von Richie Tenenbaum) das Drehbuch schrieb, die Inspiration für seine Figuren holte er sich bei J.D. Salinger, F. Scott Fitzgerald, James Thurber und dem Magazin »New Yorker«.
Wie bei »Rushmore« überwiegt auch bei den »Royal Tenenbaums« der symmetrische Frontalblick auf Schauplätze und Figuren. Wie auf Schaubühnen bewegen sich Andersons Darsteller. Das Leben ist ein Theater, sagen die Innenaufnahmen, aber auch Draußen befinden wir uns nicht in der Realität. Anderson hat ein romantisches New York erstehen lassen, das ebenfalls eher der literarischen Imagination der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts zu entstammen scheint. »Es lief alles darauf hinaus, eine ganze Welt zu erschaffen, in der die Dinge überhöht sind«, meint Anderson. »Das Ziel der Stilisierung ist es, die Welt, in der sich unsere Figuren aufhalten, aufregend und sehr bald schon ganz selbstverständlich erscheinen zu lassen.«
Anderson gelingt es mit Hilfe seines hervorragenden Teams (besonders Kameramann Robert Yeoman, Ausstatter David Wasco, Kostümfrau Karen Patch), Widersprüche zu vereinen: Seine Welt ist »larger than life«, aber auch vertraut, spielerisch und ernst, ironisch, aber nicht distanziert. »Camp beinhaltet ein neues komplexeres Verhältnis zur ›Ernsthaftigkeit‹«, schreibt Susan Sontag. »Man kann ernst über Frivoles sein und frivol über Ernstes«. Der schönste Beleg für diesen Satz ist vielleicht die Szene, als Ex-Tennisprofi Richie Tenenbaum nach einem missglückten Selbstmordversuch wegen Liebeskummer einfällt, dass er ja noch einen Abschiedsbrief schreiben muss. »Die Royal Tenenbaums« ist kein Film zum Lachen, aber es gibt kaum einen Moment, der einem nicht ein breites Lächeln ins Gesicht zaubert.
Noch einmal Susan Sontag: »Der Camp-Geschmack ist eine Art von Liebe, eine Liebe zum Menschen. Es genießt die kleinen Triumpfe und unbeholfenen Besonderheiten von ›Charakteren‹«. Die Figuren stehen daher im Mittelpunkt der »Royal Tenenbaums« und nicht die Geschichte. Der Reiz besteht nicht im Weg, den die Protagonisten gehen, sondern liegt in ihnen selbst, ihrem inneren Glühen, mag es auch teilweise hinter einer kühlen Fassade verborgen sein. Ihre Komplexität ergibt sich dabei nicht unbedingt aus ihren Aktionen, sondern darüber, wie sie mit Hilfe von Musik, Ausstattung, Kleidung immer genauer definiert werden und darüber, dass ihre Handlungen nicht gewertet werden. Es gibt kein Gut und Böse, sondern nur Menschen, die mehr oder weniger richtige Entscheidungen treffen.
Andersons jungshaft-nerdiger Perfektionismus ist kein leerer Formalismus. Er führt uns keine wohlgeordnete Briefmarkensammlung vor, sondern fügt vor unseren Augen ein vielteiliges Puzzle zusammen. Dabei zeigt der Anfangdreißiger ein sehr reifes Verständnis für menschliche Unzulänglichkeiten und Probleme, ohne auf einen psychologischen Realismus zurückzugreifen. Sein größtes Verdienst ist es allerdings, durch den Rückgriff auf Camp-Techniken, allerdings ohne augenzwinkernden Bad-Taste-Humor, eine ironische Haltung gegenüber sich selbst und seinem Thema einzunehmen und dabei völlig ernst zu bleiben.
Die Royal Tenenbaums (The Royal Tenenbaums) USA 01, R: Wes Anderson, D: Gene Hackman, Gwyneth Paltrow, Ben Stiller, 109 Min. Start: 14.3.