Jugend im Knast

In Jugendgefängnissen herrscht eine brutale Hierarchie – daran hat sich seit dem Foltermord von Siegburg wenig geändert.

 

Anja Albert hat in der Kölner JVA einen Einblick in den ­Alltag der Inhaftierten bekommen

Einige wenige hängen grölend am Gitter. Ihren Kopf drücken sie gegen die Eisen­stan­gen, ihre Finger verkrampfen sich im feinmaschigen Drahtgespann, das die Fenster zusätzlich von außen abriegelt. Es sind die Neuen in der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf. Zwei Vollzugsbeamte stehen im Hof und schauen gleichgültig in die entgegengesetzte Richtung, zu den fünf Meter hohen Mauern und dem Nato-Stacheldraht. »Hier haut keiner ab. Keine Chance. Das ist ein Hochsicherheits­gefängnis«, sagt ein Beamter. Das klingt irgendwie auch ein bisschen stolz.

Die, die man nicht sieht, liegen im Bett. Ihre Fenster haben sie mit dunklen Woll­decken abgehangen, damit die Sonne nicht beim Fernsehen stört. Wortfetzen der Nachmittagstalkshows und HipHop-Beats schallen in den Hof. Der Sound aus den kleinen Transistorradios klingt blechern. High Noon der Langeweile.

Die Kölner JVA wurde in den 60er ­Jah­ren gebaut und ist der größte zusammenhängende Gefängniskomplex in Nordrhein-West­falen. Alle Trakte sind so miteinander verbunden, dass man niemals ins Freie kommt, wenn man von einem Hafthaus ins nächste geht. »Kammbau« sagen die JVA-Angestellten da­zu. 1200 Häftlinge sitzen hier ein, darunter 120 junge männliche Untersuchungshäftlinge und 80 junge Frauen in Straf- oder U-Haft. Die Kölner JVA ist der einzige Knast für junge weibliche Inhaftierte in Nordrhein-Westfalen – Jugendknast ist in erster Linie Jungensache.

»Erziehung zum Nichtstun«

In Köln hat nur die Hälfte aller männlichen Gefangenen eine regelmäßige Beschäftigung, bei den Mädchen und jungen Frauen haben fast alle eine Arbeit. »Da kackst du nur ab. Um 6.30 Uhr stellen die dein Frühstück rein und du pennst bis zum Mittagessen«, beschreibt der 20-jährige Andreas* seinen Alltag. Am Wo­chen­ende ist die quälende Ödnis am schlimmsten, samstags werden die jungen Männer am späten Nachmittag zur Nachtruhe weggeschlossen, erst am nächsten Morgen wird die Zelle kurz zur »Lebendkontrolle« geöffnet. »Die hängen nur rum, das ist liegender Verwahrvollzug, Erziehung zum Nichtstun«, warnt Günter Berkenbrink, Seelsorger im Wuppertaler Gefängnis. Eigentlich sollen die jugendlichen Delinquen­ten im »Erziehungsvollzug« lernen, mit sich und ihrer Freizeit etwas anzufangen – Anstoß für zahlreiche Straftaten ist ja oftmals dieses Unvermögen.

Andreas, 1,90 Meter groß, trainiert, schwarze Haare und blaue Augen, ist seit ein paar Monaten in der A-Gruppe – das ist der Hauptgewinn im Kölner Jugendknast. Er hat zusätzlich zum gesetzlich verordneten ein­stün­digen Hofgang jeden Tag zwei Stunden »Aufschluss«, dann ist seine Stahltür offen. Zu die­sem Privileg kommen diejenigen, die sich gut benehmen – und sofern noch ein Platz frei ist. Maximal zwölf von sechzig Inhaftierten pro Haus erhalten diese Bevorzugung, mehr können die Beamten laut eigenen Aussagen aus Personalnotstand nicht kon­trollieren. »Dann müssen sie warten«, sagt der Vollzugsbeamte Jost Mende. In der B-Gruppe, in die man zu Haftbeginn eingestuft wird, hat man zwei Stunden »Umschluss« pro Tag und darf währenddessen auf die Zelle eines anderen Häftlings. 23 Stunden am Tag abgeriegelt sind die Insassen, die keine Arbeit haben und aufgrund eines Verstoßes in die C-Gruppe runtergestuft werden: »Je weniger sie sich an Regeln halten, desto enger werden sie gehalten«, sagt Angela Wotzlaw, Leiterin des Jugendstrafvollzugs.

»Irgendwann dachte ich, ich werde ­paranoid«

Besonders gefürchtet ist der »Bunker«, ein kameraüberwachter Raum, in den die Ge­fangenen bei schweren Regelverstößen ein­gebuchtet werden – 24 Stunden täglich. Auch Andreas war schon mal drin, seine bislang schlimmsten vier Tage im Knast: »Irgendwann dachte ich, ich werde paranoid, hatte Verfolgungsangst«, erinnert er sich. »Ich musste was kaputt machen. Da hab ich den Fernseher gegen das Gitter gefeuert. Dann kam ich erst in die Beobachtungszelle und dann in den Bunker.« Einen fest angestellten Psychiater hat die Kölner JVA nicht.

Seit 15 Monaten sitzt Andreas wegen schweren Raubs und unerlaubten Waffen­be­sitzes in Ossendorf. Eine Woche hat er noch, dann kommt er für ein halbes Jahr in eine Dro­gentherapie. Mit zwölf rauchte er Marihuana, später zog er sich Speed durch die Nase, im »Dau­errausch« machte er seinen Real­schul­abschluss. Damit gehört er zu den Privilegierten im Knast, die meisten haben die Hauptschule ohne Abschlusszeugnis verlassen.

468 Tage hat er auf vier mal zwei Metern gelebt. 468 Tage hat er auf der dünnen, feuerfesten Matratze geschlafen, das Bett ­direkt neben der Kloschüssel. Die ersten drei Monate waren sie zu zweit auf der Zelle, mit einem »Spannmann«, der bei allem zuschaut, was man macht. Tisch, Stuhl, Waschbecken, Regal – alles auf acht Quadratmetern. Der Platz ist so eng, dass man sich automatisch streift, wenn zwei Leute im Raum sind und man aneinander vorbeiläuft. Die Wände in der Zelle des 20-Jährigen sind mit Postern aus der Bravo zugepflastert. Christina Aguilera hängt neben Pin-up-Girls und einem Südseestrand. Irgendwo dazwischen klebt ein Brief: »Für Andreas. Frohe Ostern wünschen Dir Max und Mama. Hab dich ganz doll lieb. Dein kleiner Bruder Max«. Geschrieben in einer Kinderschrift, dazu ein selbst gemalter Osterhase – auch das ist selten im Jugendknast.

»Sie haben Verbrechen begangen, aber das Leben ist auch ein Verbrechen an ­ihnen«, sagt Klaus Jünschke vom Kölner ­Appell gegen Rassismus, der einmal in der Woche eine Gesprächsgruppe mit jugendlichen Inhaftierten leitet und dem Beirat der JVA angehört. Die meisten kommen aus einem Milieu, in dem Armut, Alkoholsucht und Überforderung herr­schen, wo ihnen von klein auf verzerrte Männlichkeitsideale und Gewalt als Mittel zur Auseinandersetzung eingeprügelt wurden. Viele sind im Heim aufgewachsen oder haben keinen Kontakt mehr zu ihren Familien. »Wir reden mit ihnen. Über den Knastalltag, ihre Vergangenheit und die Zukunft. Vielen ist reden neu«, sagt der 60-jährige Jünschke, der als früheres RAF-Mitglied selbst von 1972 bis 1988 in Haft saß.

Gitter-Rambos haben das Sagen

Gegen Ende der Runde lässt die Konzentra­tion unter den zehn Jugendli­chen nach. Sie reden durcheinander: Macho-Sprüche, Knast-Geschwätz, sie prahlen mit ihren Untaten. Andere sitzen eingeschüchtert da, die Knast-Hackordnung ist überall spürbar.

Es gibt die Regeln der Anstalt und die Regeln der »Bosse«: Muskelbepackte »Gitter-Rambos« haben das Sagen, »Fische« dürfen nicht aufmucken. Sie müssen ihren ­mo­natlichen Einkauf abgeben, »tauschen« Goldkettchen gegen eine Drehung Tabak, müssen für die anderen putzen, tanzen, singen oder werden vergewaltigt. »Jeder kackt ab, das darf man nur nicht zeigen. Sonst bist du für immer der Butler«, sagt Andreas, während er zurück ins Hafthaus geführt wird. Der Hauptgang des Männer- und Jungentrakts ist 200 Meter lang. Die Wände sind in einem grün­lichen Gelb gestrichen, Neonleuchten hängen an der Decke, Tageslicht gibt es nicht – eine Architektur, die einschüchtert. Es riecht muffig, nach einem Gemisch aus Desinfektionsmitteln, alten Socken, Kohlsuppe und Tabak. »Typischer Knastgestank«, findet Andreas.
Von der Gewalt in den Zellen bekommen die Beamten oft wenig mit. Wenn Häftlinge andere verraten, gelten sie als »Zinker«, und dann greifen die brutalen Regeln der Knastbosse. »Manche trauen sich nicht mal in der Freistunde raus«, sagt Andreas. 681 Gewalttaten hinter Gittern im Jahr 2005 zählte eine nach dem Foltermord in Siegburg in ­Auftrag gegebene Studie des NRW-Justiz­ministeriums – die Dunkelziffer ist nach Expertenmeinung jedoch deutlich höher.

Betreuungsarmer Vollzug und Platzmangel

In Köln herrscht, wie in den meisten anderen Anstalten auch, betreuungsarmer Vollzug und Platzmangel. In einem Jugendhafthaus sind für 60 Inhaftierte tagsüber zwei bis drei Be­amte anwesend. Am Abend und an den Wochenenden wird das Personal zusätzlich runtergefahren. »Wir sind chronisch überlastet«, betont der Vollzugsbeamte Jost Mende. Beim übrigen Fachpersonal sieht es ähnlich aus: Ein Psychologe und vier Sozialarbeiter sind für insgesamt 200 junge Männer und Frauen zuständig. »Das ist viel zu wenig. Jeder müsste gesprächstherapeutisch betreut werden, das kann ich aber nicht leisten«, sagt der Gefängnispsychologe Friedhelm Kahlau. Er ist der einzige JVA-Angestellte, der sich kritisch über die Haftbedingungen äußert. Für zehn Jugend­liche ein Sozialarbeiter sei akzeptabel. Nach dem Foltermord in Siegburg hat das NRW-Justizministerium landesweit 330 zu­sätz­liche Stellen versprochen. Aktuell werden die Vollzugsbeamten allerdings noch ausgebildet.

Die Kölner JVA ist laut Leiterin ­Angela Wotzlaw »eng«: »Wir sind voll, aber nicht überbelegt.« Freie Betten gebe es allerdings keine. »In Riesen­anstalten kann der Anstaltsleiter seine Gefangenen nicht mehr kennen«, sagt Michael Walter, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität zu Köln. Ein Gefängnis dürfe nur zu neunzig Prozent ausgelastet sein. »Man braucht Luft, um Leute bei Problemen kurzerhand auseinanderzulegen und geeignete Gruppen zu kom­ponieren«, so Klaus Jünschke. Zu Haftbeginn werden die Jugendlichen in Köln, die als suizid­gefährdet eingestuft werden, auf Zweierzellen gelegt. Wenn alles voll ist, kommt zwangsweise Autoknacker zu Mörder – oder wie im Siegburger Fall ein zur ­Freiheitsstrafe verurteilter Junkie zu einem Sexualstraftäter.

Drei von vier Jugendlichen werden rückfällig

»Die Unterbringung ist nicht jugendgerecht. Sie trägt dazu bei, dass die Jugendlichen bru­ta­lisiert werden. Das ist der heimliche Lehrplan«, sagt Jünschke, der wie viele Haftkritiker die Abschaffung der Jugendgefängnisse fordert. Wer einmal saß, hat kaum Chancen, das belegt auch die Rückfallquote von achtzig Prozent. »Der aktuelle Strafvollzug schafft es in der über­wiegenden Zahl der Fälle nicht, die Menschen zu einem straffreien Leben zu führen«, betont der Kriminologe Walter. Dabei sind die Mörder, Triebtäter und Totschläger die Minderheit in den Jugendknästen, die kriminelle Infizierung aber der Alltag. Viele haben Eigentumsdelikte begangen, haben gegen das Betäu­bungs­mittelgesetz verstoßen oder verbüßen eine Er­satzfreiheitsstrafe, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Auch der 19-jährigen Bouchra aus dem Ruhrgebiet, deren Eltern im Libanon leben, hat der Jugendrichter gesagt, sie sei »unbelehrbar« und »nicht einsichtig«: Sie ist immer wieder schwarzgefahren. Erst wurde sie zu vierzig ­Sozialstunden verdonnert, dann zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe. »Ich kann’s verstehen«, sagt Bouchra, die aus ihrer Kindheit und Jugend auch nur das Prinzip Be­strafung kennt.

Die jungen Frauen in Ossendorf haben ein wenig mehr »Freiheit« als die männlichen Delinquenten: Sie haben drei Mal am Tag »Aufschluss« und dürfen gemeinsam essen. »Ihre Gewaltbereitschaft ist nicht so hoch«, sagt die Leiterin des Jugendstrafvollzugs. Zwan­zig Frauen haben die Möglichkeit, in einer Wohngruppe zu leben – um auf die Freiheit vorbereitet zu werden oder einen Drogenentzug zu machen. Sechzig Prozent aller Mädchen und achtzig Prozent aller inhaftierten Frauen sind heroinabhängig. »Als ich hierhin kam, dachte ich, ich bin in Amerika. Wie kaputt man überhaupt sein kann, habe ich erst hier gesehen«, sagt Bouchra, die zwar, wie sie sagt, früher »ein schlimmes Mädchen« war, mit Drogen und Gewalt aber nichts am Hut hat.
Um den Teufelskreis aus Verrohung und Stigmatisierung zu durchbrechen, bedarf es einer Öffnung des Vollzugs. »In der Unfreiheit kann man nicht für die Freiheit lernen«, so Jünschke. Wer den ganzen Tag in seiner Zelle hocke, ohne Perspektive und Kontakt nach außen, entwickle keinen Willen, sich zu verändern. Auch im Kölner Knast machen sich Menschen für die Jugendlichen stark. Es gibt eine HipHop-Band, eine Holzwerkstatt oder Kunstgruppen – aber das Angebot reicht bei weitem nicht für alle. »Wir haben rund 200 Ehrenamtler, die sich sehr engagieren, nur fehlt es an Räumen. Wir könnten sechs Kurse parallel anbieten, wenn wir die Kapazität hätten«, klagt Angela Wotzlaw über die baulichen Mängel.

Düstere Zukunft ohne schulische und berufliche Bildung

Gerade an den Werkbänken oder in der ­Fahrradwerkstatt könnte so etwas wie Resozialisierung starten. »Der entscheidende Unterschied ist, ob die Jungs im Knast gefördert werden oder nicht, ob sie eine Ausbildung ­gemacht haben oder nicht. Ohne eine schulische oder berufliche Bildung sieht ihre Zukunft sehr düs­ter aus«, sagt Karl-Peter Ochs, Leiter des »Haus Rupprechtstraße« in Köln-Sülz, einem Wohnheim für ehemals straf­fällige oder auf Be­währung freie Jugendliche. »Wenn sie aus dem offenen Vollzug kommen, ist ihr Zustand recht stabil. Beim geschlossenen nicht.« In der Regel seien sie nicht auf ihr neues Leben vorbereitet. »Das Lebenspraktische beginnt bei uns.« Ochs kennt ­Geschichten von Jungs, die um vier Uhr nachmittags entlassen wurden, wenn jede Behörde geschlossen hat. »Dann stehen die in Ossendorf und wissen nicht wohin und was tun.«

Der 21-jährige Peter ist einer von ­ihnen. Er hat dreieinhalb Jahre gesessen, zuerst in Köln, dann in Siegburg. Seitdem lebt er im »Haus Rupprechtstraße«: »Dadurch ­komme ich nicht so leicht auf die schiefe Bahn.« In den zweieinhalb Jahren in Siegburg wollte er eine Ausbildung zum Kfz-Mecha­niker machen. Aber seine Strafe sei der Anstaltsleitung um drei Monate zu kurz gewesen. »Ich wäre sogar freiwillig die drei Monate in den Knast gegangen. Tagsüber. Aber keine Chance.«