Kein Geländer

Thomas Lehn ist einer der Hauptvertreter jenes Genres, das man am ehesten als Frei Improvisierte Elektroakustik bezeichnen kön­nte: eine Mischung aus einerseits Freier Improvisation oder Post-Free-Jazz, und andererseits akademischer Elektronischer Musik mitsamt aller Herleitungen und Traditionsstränge. Lehn ist in beiden Disziplinen fest verwurzelt: »Ich bin gleichzeitig von der Klassik in die Neue Musik gekommen und vom Rock über den Jazz in die Freie Improvisa­tion«, fasst er seine musikalische So­zialisationsgeschichte zusammen. Naheliegend, die Abstraktions-Fluchtpunkte beider Traditionen zusammenzuführen, denn je avancierter die Musik, desto mehr verschwimmen derlei Kategorisierungen: »Im Hinblick auf die Arbeit an der Musik und auf Fragen von Material, Form und Inhalt sind notierte zeitgenössische Kunstmusik und impro­visierte Musik sich gar nicht
so fern.«

Zu den Fragen, die Lehn dabei besonders interessieren, gehört die nach Formenvielfalt und Energetik versus Entschnörkelung und Nüchternheit. Denn obwohl der freie Jazz im Hinblick auf die frühe Jazz-Geschichte eine enorme Verdichtung von Information darstellt, hat er andererseits aus seiner eigenen Logik und seinem typischen Umgang mit Klangmaterial heraus auch Momente radikaler Reduktion hervorgebracht. Und so gab und gibt es innerhalb dieses hochspezialisierten Mikrodiskurses klare Abgrenzungsbewegungen. Thomas berichtet über die britische Improvisations-Schule der 60er Jahre: »AMM, Derek Bailey und Evan Parker waren völlig fasziniert von dem österreichischen Komponisten Anton Webern: Schmeißt allen überflüssigen Mist weg! Das war für viele Briten gegenüber dem Jazz eine Neuorientierung. Nichts gegen Freejazz, der ist wunderbar, aber es ging der britischen Schule genau darum, diesen Power-Duktus rauszunehmen, den Jazz-Puls, den Drive und alle Ornamente wegzulassen – um in eine ausgespartere, trockenere Spielweise hineinzukommen. Ähnlich wie Jahre zuvor der Cool Jazz das Überhitzte des Bebop weggenommen hat, um sich mehr um die Architektur der Musik zu bemühen und die Wahrnehmung für andere Phänomene zu sensibilisieren.«

Lehn schätzt und beherrscht mit seinem Gespür für Dramaturgie und Interaktion beide Dukti mitsamt ihren zahlreichen Zwischenformen. Solo gibt er sich tendenziell architektonisch-nüchterner; in Zusammenarbeit mit dem Kölner Experimentalmu­siker Marcus Schmickler hat er
hingegen zugelassen, dass eigene Live-Improvisationen zerschnitten und neu zusammengesetzt werden: Komposition aus Im­provisation. Mit seinem »Power Trio« Konk Pack wiederum rockt Lehn gern mal ganz hochenergetisch und mit vollem Körpereinsatz seinen klaviaturlosen 1970er EMS-Analogsynthesizer bearbeitend das Haus. Naheliegend, bei derart sportlichen Mitstreitern: Saxophonist und Tabletop-Gitarrist Tim Hodgkinson hat in den 70er Jahren mit Fred Frith und Chris Cutler bei der Canterbury-Avant-Progressive-Vorzeigeband Henry Cow gespielt, in den 90er Jahren dann mit Kevin Martin bei God, jener international besetzten Noise-Big-Band zwischen Free Jazz, Doom, Dub und Voodoo. Der Schlagzeuger Roger Turner, eben­falls schon ein paar Jahrzehnte in der Lärm-Szene tätig, hat unter anderem mit dem Vocal-Akrobaten Phil Minton aufgenommen. Zum ersten Mal zusammengespielt haben die drei 1997 bei dem Budapester Szünetjel-Festival, wo die anwesenden Improvisatoren zu Adhoc-Formationen zusammengewürfelt wurden. Obwohl alle Beteiligten mit dem Ergebnis spontan höchst zufrieden waren, musste bis zur eigentlichen Bandgründung noch ein Jahr vergehen.

Wenn er von Improvisations-Erlebnissen – nicht zuletzt eben mit Konk Pack – erzählt, kommt der sonst recht analytische Lehn ins Schwärmen: »Für mich geht es eigentlich nur darum, Räume zu erschließen, in die das Ohr eintauchen kann. Man öffnet eine Tür und ist fasziniert von der Rätselhaftigkeit der Musik. Wenn man durch sie in einen anderen Zustand des Bewusstseins gerät, die Zeit nicht mehr wahrnimmt, sich eigentlich außerhalb der Zeit befindet. Das ist ein gewisser transzendentaler Akt.« Auch nach Jahren in der improvisierenden Szene erlebt Lehn diese quasi psychedelischen Momente immer wieder: »Ich glaube, ich würde nicht mehr spielen, wenn ich nicht hin und wieder diese Erfahrung machte, dass der Raum verzaubert ist und die Leute völlig baff sind. Dann bin ich nur dankbar. Denn man geht bei der Improvisation ein hohes Risiko ein: Es gibt nicht die Sicherheit, dass die Leute zufrieden sind, wenn man dieses oder jenes macht, sondern man lebt auch mit Enttäuschungen. Du hast kein Geländer, wenn du dich dem ganz offenen Raum hingibst. Idiome kann man natürlich nie ganz ausschließen. Aber: Wir streben bei Konk Pack danach, den Idiomen irgendwie aus dem Weg zu gehen, sobald sie auftauchen. Uns eben nicht an dem Geländer festzuhalten, sondern es wegzuschubsen und weiterzugehen. Damit das klappt, muss man empfänglich sein für den Raum, die gegebene Situa­tion und den entstehenden Prozess. Wenn du das forcieren willst, funktioniert das schon mal gar nicht. Der ganze Prozess ist ja ein äußerst komplexer Vorgang zwischen Intuition und Emotion,
Intellekt, Körperlichkeit.« Und diesen komplexen Vorgang sollte man dringend mal live erleben – z.B. diesen Monat in Köln.


Aktuelle Veröffentlichungen:
Thomas Lehn / Marcus Schmickler:
Kölner Kranz (LP)
Navigation im Hypertext (CD)
Frédéric Blondy / Thomas Lehn:
Obdo (CD)

Konzert: So 19.10., Studio 672, 20.30 Uhr Dorothea Schürch & KONK PACK,
im Rahmen von »Reconstructing Song«
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