Wo ist unser Lebensmittelpunkt?

Unter dem Titel »Echt!« findet das Festival für Politik im Freien Theater erstmals in Köln statt. Es zeigt: Dokumentarische Aufführungen dominieren die Szene. Alexander Haas und Dorothea Marcus wollten wissen, warum das so ist

Das Festival für Politik im Freien Theater findet seit 1988 alle drei Jahre statt und ist eine Veranstaltung der Bundeszentrale für Politische Bildung. Die aktuelle Ausgabe thematisiert die Verände­rung des traditionellen Theaterbegriffs durch den Boom dokumentarisch orientierter Produk­tionen. Neben der Auswahl bestehender Produktionen aus dem deutschsprachigen Raum gibt es erstmals einen Block mit fünf internationalen Aufführungen sowie eine Reihe mit dem Titel »Made in Köln« (siehe dazu S. 63). Die StadtRevue hat zu einem Gespräch über das Festival und die Infragestellung des herkömmlichen Theaters eingeladen: Festival­kurator Rainer Hofmann, das teilnehmende Regie-Team Hofmann & Lindholm (Köln) und der Dramaturg am Schauspiel Köln Götz ­Leineweber geben Auskunft

StadtRevue: Rainer Hofmann, hat das rein ­fiktionale Literaturtheater ausgedient?

Rainer Hofmann: Das glaube ich nicht. Ich habe eher den Eindruck, dass es sich ausdifferenziert und dass es neue Möglichkeiten von Theater gibt, die man vor dreißig Jahren nicht kannte. Gerade im Freien Theater kommen die entscheidenden Impulse aber momentan aus der Auseinandersetzung mit dem Dokumentarischen. Deshalb habe ich beim Festival den Schwerpunkt darauf gelegt.

Was ist das spezifisch »Politische« an den Produktionen, die zum Festival eingeladen wurden?

Hofmann: Wir wollten nicht etwa Migration oder andere Zeitungsthemen zum zentralen Gegenstand machen. Politisches Theater defi­niere ich als »gesellschaftspolitisch relevant«. Also: Worüber lohnt es sich zu diskutieren? Nur der Inhalt reicht nicht. Ich habe viele Stücke gesehen, in denen man dem netten Türken von nebenan auf der Bühne begegnet. Das halte ich für unpolitisch, weil es mich nicht zum Nachdenken bringt. Für mich ist ein Stück politisch, wenn es mich animiert, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. An diesem Punkt kommen ästhetische Kriterien ins Spiel.

Was ist für Hofmann & Lindholm spannend ­daran, auf der Bühne ohne Schauspieler zu arbeiten?

Hofmann & Lindholm: Schauspieler setzen sich üblicherweise mit Rollen auseinander. Uns interessieren aber keine Rollenspiele. Wir ver­stehen die Menschen, mit denen wir arbeiten – ganz unabhängig von ihrer jeweiligen Profession – als »Komplizen«. Wir beauftragen sie mit bestimmten Handlungen und sie entwickeln Haltungen zu bestimmten Themen und Fragestellungen. Man könnte auch sagen, wir lehnen es nicht ab, mit Schauspielern zu arbeiten, kommen aber ohne Rollenspiele aus.

Wie sieht der Dramaturg eines Stadttheaters das? Dort hat das Dokumentarische ja auch seine Spuren hinterlassen.

Götz Leineweber: Was Laien auf der Bühne attraktiv macht, ist ihre Frische, die Kraft des Dilettantismus im positiven Sinne. Gerade im Vergleich zu den Profis. Dennoch entsteht für sie eine andere Gefährdung, denn letztlich kann direkt daneben ein Profi besser »echt« spielen. Der herkömmliche Theaterraum lässt ja als solcher kaum Authentizität zu und ein guter Schauspieler weiß, was der Zuschauer als »unnatürlich« empfindet.

Hofmann & Lindholm: Wir verwehren uns gegen den Begriff »Laien«, weil er einen Mangel definiert. Das ist nicht der Grund, warum wir diese Menschen suchen. Das Wort »Laie« transportiert immer noch so eine Vorstellung von dem, was im Theater stattfinden darf und was nicht. Doch dazu ist eine neue Generation, zu der wir auch gehören, ja angetreten: Wir wollen die klassisch begrenzten Territorien des Theaters erweitern und die Theatermittel neu befragen.

Nochmal zugespitzt: Ist das Dokumentarische inzwischen die adäquatere Form als ein fiktionales Stück, um gesellschaftliche Realität darzustellen?

Hofmann: Interessant ist, dass in unserem Gespräch bislang noch nicht die Worte ­Widerstand oder Protest gefallen sind. Es geht also nicht um »Denen hauen wir eine rein«, sondern darum, zu sagen, wir grenzen uns ab und zeigen etwas anderes und über­lassen es wieder anderen zur Begutachtung. Mir scheint, dass das gerade eine wirksame Methode ist, politisches Theater zu machen. Das wiederum hat zu tun mit dem Zustand einer sehr komplizierten bürgerlichen Gesellschaft. Man muss anerkennen, dass alle Versuche, das Theater als antibürgerlich zu definieren, nicht mehr funktionieren. Man kann durchaus zugeben, dass wir alle Bürger sind, so wie wir hier sitzen.

Hofmann & Lindholm: Die Frage ist aber auch immer, Bürger welcher Welten? Man hat seit mindestens fünf Jahren den Eindruck, dass die Globalisierung in unserer Gesellschaft ihre Folgen nach sich zieht. Gleichzeitig versuchen die Menschen den Lebens­mittelpunkt in sich selbst zu finden. Sie stehen einer breiten Palette an Möglichkeiten ge­genüber und können sich im Grunde für Alles oder Nichts entschei­den. Wenn im Theater nun verstärkt Interessensgemeinschaften gebildet werden, die von Eigensinn ausgehen und diesen dokumentieren, so wie wir es tun, hat das sicher viel damit zu tun.

»Echt!« zeigt auch fünf internationale Produk­tionen. Bei der Auswahl war es Ihnen wichtig, dass diese Arbeiten mit unseren ästhetischen Codes ­verständlich sind. Ist das nicht eine etwas euro­zentristische Perspektive?

Hofmann: Sicher, die Auswahl ist west-­zentristisch. Ich mag keine Stücke, bei denen ich denke, der Neger tanzt aber schön, böse gesagt. Bei denen man eine Form von Exo­tismus bewundert, aber nicht mehr versteht. Oder bei denen man mir sehr viel erklären muss. Das heißt nicht, dass es sich dabei um schlechtes Theater handelte. Aber wenn ich das Gezeigte nicht nachvollziehen kann, ist es meiner Ansicht nach am falschen Ort.

Inwiefern gilt das nicht für die Festivalproduk­tionen?

Hofmann: Zwei Stücke verhandeln zentrale Probleme ihres Landes, die uns politisch so bewusst sind, dass wir die Themen verstehen können. Das sind die Produktionen von NO99 aus Estland und von Arjun Raina aus Indien. Deren Macher haben zudem so viele westliche Theaterproduktionen gesehen, dass ein Austausch der Codes stattgefunden hat. Zwei ­weitere Stücke beschäftigen sich mit deutscher Geschichte: Die niederländische Gruppe ­Hotel Modern, die eine Miniatur­nach­bildung des Konzentrationslager Au­schwitz zeigt und die Street Theatre Troupe Seoul, die ein Stück über Staatentrennung und Wiedervereinigung macht. Eine gewisse Ausnahme bildet die griechische Produktion »Stalin«. Sie stellt, mit allen postmodernen Wassern gewaschen und hochkomplex, grund­sätzliche Fragen nach Politik im ­Theater.

Abschließend zurück zur ästhetischen Frage: Ist das Dokumentarische auf dem Theater nur eine kurze Mode? Was bleibt davon?

Leineweber: Ich glaube, Moden kommen und gehen. Und auch wenn man den dokumentarischen Weg wählt, müssen nach der Besetzung künstlerische Entscheidungen getroffen werden, die alle auch politisch lesbar sind. Für mich ist das Arbeiten mit Laien und ohne fertiges Stück ein Bedürfnis, und ich hoffe, dass sich daran nichts ändert. Aber wer weiß, dann hat man auf einmal zwei Kinder und ein Haus und macht doch lieber »Don Carlos«, weil das die nächsten Jahrhunderte auf jeden Fall klappt.

Hofmann & Lindholm: Man muss doch sagen, dass innerhalb dessen, was hier »dokumentarisches Theater« genannt wird, riesengroße Unterschiede bestehen. Wir glauben schon, dass sich der Bereich, in dem mit Nicht-Schauspielern gearbeitet wird, jenseits der aktuellen Popularität halten wird. Und jetzt ist der Moment, wo differenziert werden sollte. Man sollte ganz genau hinsehen und die Formen unterscheiden. Im Grunde hinkt die Rezeption da hinterher.

Info
Das Festival läuft von 13.-23. November an verschiedenen Spielorten. Alle Termine: siehe Tageskalender.
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