Der Sound von Kopf und Körper

Mit Ulrike Draesner hat das Literaturhaus eine der vielseitigsten deutschen Autorinnen zu einer Werkschau eingeladen

 

Die Liebe macht sie grausam. Wenn ihre Herzen gebrochen werden, wenn Sehnsüchte unerfüllt bleiben, wenn die Männer ver­sagen, verwandeln sich die so schlauen und gebildeten, empfindsamen Frauenfiguren in Ulrike Draesners Romanen in Rachegöttinnen. Eine zieht ihrem Geliebten die Unterhosen aus, nur um ihn im Zustand größter Erregung vor seinen Klassenkameraden bloßzustellen. Eine andere sperrt ihren Hund mit einem aggressiven Raben in einen Raum, lauscht an der Tür – die Schmerzens- und Wutschreie des Hundes, der bei diesem Kampf ein Auge verliert, ersetzen ihre eigenen. Die selbst Verletzten verletzen, perfide und bösartig, und treffen ins Mark. Eben war man diesen Frauen noch so nah, jetzt: lehren sie das Fürchten.

In Ulrike Draesners Schreiben ist der Grat zwischen analytischer Vernunft und archaischem Gefühl schmal. »Gefühle saßen nicht im Herzen, die Biologen wussten es längst, nur die Sprache war nicht auf der Höhe der Zeit«, räsoniert eine Figur in ihrem Erzählband »Hotdogs«. Draesner hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Defizit zu beheben. Ihr Wortschatz scheint grenzenlos, ihre Sprachcodes wechseln fließend, verbinden Poetry Slam, surrealistische Wort-Metamorphosen und Akademiker-Slang. Sprache ist ein Erkenntniswerkzeug. Das Besteck, um auch Gefühle zu sezieren.

Ulrike Draesner sei eine »poetessa docta«, hieß es kürzlich in einer Kritik, eine vielseitig gebildete Schriftstellerin
von akademischem Rang. 1993 schmeißt die promovierte Me­diävistin die vielversprechende Universitätskarriere (»Tollerei«, wie sie selbst wertet) für ein Leben als Dichterin. »gedächtnisschleifen« heißt ihr erster Lyrikband. Dann errechnet sie sich, wie sie selbst sagt, eine »Mischkalkulation von Stipendien,
literarischen Arbeiten, Essays, Übersetzungen und den Honoraren für Bücher und Lesungen, um als Autorin zu überleben«. Das Kalkül geht auf. Gerade hat sie sich wieder den Luxus eines neuen Gedichtbandes geleistet. »berührte orte«, eine lyrische Reflexion auf Reisen, hinein in die eigene Seele, hinaus in die Welt, und dort manchmal ganz prosaisch »auf den Elektromärkten: was willst für ein jump’n’run
töten / welchen biblischen namens / funkeln willst, welches auch / immer logiciel? sie läch­eln / geschmitzt, tippen staub / im kabelsalat schlangen / aus wünschen / und gier, ciel logiqu die kleine musik«.

Ein seltsamer Tanz der Worte. Wenn Ulrike Draesner sie selbst liest, formieren sich die Verse zum coolen Rap, dehnen sich die Laute mit leicht kehlig-bayrischem Akzent, den die gebürtige Münchnerin sich auch nach zwölf Jahren Berlin nicht abgewöhnt hat. Ihre Gedichte sind wie ihre Frauen. Ganz nah locken sie heran
mit sinnlich-intelligenter Schönheit, aber manchmal öffnen sie jäh einen Abgrund: Kugelschreiber entpuppen sich als Antipersonenminen, die Israel über Syrien abgeworfen hat. Ein Hund wird von Kindern zu Tode gefoltert, ein anderer eingeschläfert, die Besitzerin kauft sich ein geblümtes Kleid. Absurder Trost.

Liebe und die ewige Frage

Die Liebe? Definitiv mehr Höllen- als Himmelsmacht. »Darum wenn man sie beschreiben will, / So sage man, sie sey ein Crocodil«, dilettiert dichtend in Draesners Roman »Spiele« eine männliche Figur. Für solche Reim-Peinlichkeit wird Mann hart bestraft bei Ulrike Draesner – indem sie ihn selbst zum Beweisstück seiner Metaphorik macht. Liebe wird ihm zur Lebensgefahr. Liebe attackiert den Körper. Liebe ist der Gipfel der Psychosomatik. Diesem Urrätsel, der geheimnisvollen Verbindung von Leib und Seele, spürt Draesner hartnäckig nach. »Körper interessieren mich«, sagte sie einmal in einem Gespräch, »weil wir in einer Zeit leben, in der die Menschen unglaubliche Erfindungen zu Körpern machen: Stich­wort Biokörper, Genmanipulation. Aber auch so etwas wie die Einführung von virtuellen Körpern, von Second life, die plötzliche Unterscheidung, die da auftaucht zwischen schweren Körpern – also unseren Körpern mit Blut usw. – und Körpern, die nur noch aus Bits bestehen«. Das verändere alles, fügt sie hinzu, »unser Bild von uns selbst und die alte Frage: Was ist der Mensch?«

Draesners Romandebüt hieß »Lichtpause«. Ein Mädchen isst sich eine Schutzschicht gegen die Zumutungen der Umwelt an, wird dicker und dicker. Einen Roman später dann die gegenteilige Strategie: Eine Frau scheitert daran ihr Leben zu kontrollieren, also kontrolliert sie ihren Körper: Der zweite Roman »Mitgift« ist auch das Protokoll einer Magersucht. Ihre Hauptfigur Aloe hungert sich ihre Weiblichkeit und sexuelle Identität weg – die Zivilisationskrankheit wird zur Rebellion gegen die
gesellschaftliche Über-Sexualisierung und den Schönheitszwang.

Die Zerstörungen der Innen- durch die Außenwelt, die Durchdringung von »großer und kleiner Geschichte« – auch das sind Lieblingsthemen der Autorin, denen sie ihren bislang besten Roman widmete: »Spiele« (2005). Ein harmloser Titel für einen nach wie vor brisanten Text: 1972 nimmt während der Olympischen Spiele in München die palästinensische Terroreinheit »Schwarzer September« elf israelische Sportler als Geiseln. Heute gilt der blutig beendete Anschlag als Geburtstunde des global agierenden Terrorismus. Draesner verarbeitete die Ereignisse zu einem individualpsy­chologischen wie gesellschaftspolitischen Roman. Erzählt wird aus der Perspektive des Jahres 2002 – so kommen auch die Mechanismen von Gedächtnis und Erinnern bei Ulrike Draesner auf den Prüfstand. Welche Macht hat der Zufall? Verjährt eine Schuld auch in der Seele? Wie heute Buße tun? Die geschichtsphilosophischen Fra­gen grundieren den Roman, während er sich an der Oberfläche so plot-raffiniert wie ein Politthriller liest.

Ihre Themen zielen zugleich ins Grundsätzliche und ins Gegenwärtige, deshalb nimmt sich der Draesner-Sound manchmal modisch, manchmal anachronistisch aus. In seinen Ausschlägen klingt immer wieder die Urfrage des Autors durch: Wie wird Welt Sprache? Ulrike Draesners Antworten sind aufregende Versuchsanordnungen, die die Gefahr des Scheiterns lieben. Eben das macht sie groß.



Mo 1.12., Literaturhaus, 20 Uhr:
Berührte Orte – Ulrike Draesner liest aus ihrem neuen Werkschau 1.-3.12.

Gedichtband
Di 2.12., Universität zu Köln, Hörsaal II, 17.45 (Eintritt frei): Kleistogam Oder: der Extremstandort »sprich« – eine
Vorlesung von Ulrike Draesner
Mi 3.12., Deutsches Luft- und Raumfahrtzentrum, 11 Uhr: Wie die Luft-
und Raumfahrt in die Literatur kommt –
Mit Draesner auf Recherche für ihren neuen Roman (Voranmeldung,
s. www.literaturhaus.de)

Mi 3.12., Literaturhaus, 20 Uhr:
»Spiele« – der Roman über die
Blaupause für den 11. September