Die Flugbahnen der Schmetterlinge

Im Dezember spielt die MusikFabrik Schlüsselwerke der musikalischen Moderne.

Was macht ihre Qualität aus?

»Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern«, das war Mitte der 60er Jahre das Credo einer kleinen Gruppe von Linksradikalen – unter ihnen Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann –, die in München, Tübingen und Berlin die »Subversive Aktion« ins Leben riefen. Der Schlachtruf brachte zum Ausdruck, dass konsequent durchgeführte Gesellschaftskritik auch nicht vor der eigenen »Partei« halt machen darf.

Dieser bilderstürmerische An­satz der jungen Subversiven fand seine Inspiration in der Kunst: Die frühen 60er Jahre waren die Zeit von Fluxus und dem Indeterminismus in der Musik. Wer als Künstler bis dato sich auf Handwerk und Tradition verstand, nahm diese Bewegungen mit einer gewissen Lustangst wahr – als Ausdruck einer grenzenlosen Autodestruktion. »Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern«, das trifft auf die Entwicklung der Neuen Musik in geradezu exemplarischer Form zu.

Noch zum Ende der 50er Jahre konnten die Komponisten sich als Teil eines Kontinuums der Moderne, eines klar definierten Kanons verstehen – und sie taten es auch: Die Linie begann mit Arnold Schönberg und seiner rationaler Kompositionsmethode, die in dem Komponieren »nur mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen« gipfelte. Die Idee einer Musik, die keinem überlieferten tonalen System mehr folgte, wurde von Schönbergs Schüler Anton Webern noch radikalisiert und von einer Gruppe von Nachkriegskomponisten auf alle Parameter eines Tons ausgedehnt. Die serielle Musik war in der Welt, und ihre noch blutjungen Protagonisten hießen Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono. Seriell nannten sie die Musik deshalb, weil ihre Kompositionen jeweils aus einer in jeder klanglichen und zeitlichen Hinsicht determinierten Tonreihe abgeleitet wurden. Nach der Barbarei des Faschismus und seiner vollendeten politischen Romantik erschien diese dezidiert kalte, anti-thematische und sich zudem auf eine von den Nazis verfemte Tradition berufende Musik als nachholender Triumph der Moderne.
Die Serialisten demonstrierten, dass in der Musik nichts »natürlich« ist und es keine »ewigen Werte« gibt, auf die man zwangsläufig rekurrieren müsste. Radikal? Aber sicher doch – so radikal, dass sich schließlich der Serialismus gegen sich selbst wendete. Denn wenn man keine Voraussetzungen mehr braucht, wenn es nicht mehr darum geht, Noten zu setzen, sondern Klänge zu erforschen, dann kann man im Rahmen einer Komposition auch den Rahmen in Frage stellen.

Die neuen Ideen der Anti-Serialisten

1958 tauchte John Cage bei den Darmstädter Ferienkursen auf, dem Mekka der Neuen Musik, und zeigte, dass die Befreiung der Klänge aus einem starren tonalen System am besten durch Zufallsoperationen gelingt. Nicht die totale Durchplanung eines Klangreservoirs, sondern das Gegenteil ermöglicht ein neues Hören. Cage war übrigens in den 40er Jahren in Los Angeles ein Schüler des vor den Nazis geflohenen Schönberg.
Zwei Jahre später explodierte in Köln die anti-serialistische Selbstzersetzung der Avantgarde, der Fluxus hielt Einzug. Im Altstadt-Atelier der Künstlerin Mary Bauermeister wurden nicht zuletzt Werke von La Monte Young aufgeführt: Werke, in denen bereits die Ansage, dass das Publikum innerhalb einer frei bestimmbaren Dauer machen könne, was es wolle, die Komposition ausmacht; die dazu auffordern, den Flügelschlag freigelassener Schmet­terlinge zu hören; in denen eine unbestimmte Anzahl von Musikern eine Quinte sehr, sehr, wirklich: sehr lange aushält. Der Pianist David Tudor briet während einer seiner Aufführungen von Youngs Stücken Kräuter an. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass La Monte Young, in New York Gründer eines »Traumhaus der endlosen Musik«, selbst nie daran gedacht hat, auf den Status des Komponisten zu verzichten. Im Gegensatz zu seinen Stücken, die die soziale Natur der Musik betonen (alle haben an ihr teil), geriert er sich als Patriarch der alten Komponistenschule.

Die Geschichte der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von diesen Widersprüchen. Sie sind dermaßen gravierend, dass es noch heute schwer fällt, die Kunst zu bewerten: War der Serialismus nur eine Sackgasse? La Monte Young ein Scharlatan? Überlebt ein Werk, wenn es, wie im Fall von John Cage oder dem jüngst verstorbenen Mauricio Kagel, aufs engste mit einer charismatischen Komponistenpersönlichkeit verbunden ist?

Am vernünftigsten ist es, diese Fragen nicht abschließend zu beantworten, sie offen zu lassen. So lange sie offen bleiben, so lange ist die Musik auch umstritten. Und was umstritten ist, das ist auch lebendig. Noch sind die Widersprüche der 60er Jahre produktiv.



Schlüsselwerke:

Die MusikFabrik NRW geht auf einem zweitägigen Festival der Frage nach, wie ein Kanon der Neuen Musik für unser Jahrhundert aussehen könnte. Am 5. und 6. Dezember spielt sie im KOMED-Saal (Mediapark 7) »Schlüsselwerke« des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit Ferruccio Busoni und Edgar Varèse werden zwei Visionäre vorgestellt, und dann wird der große Bogen gespannt: von Olivier Messiaen, einem der Vordenker der Serialisten, über den »klassischen« Serialismus (Boulez, Stockhausen) bis zu dem genialen Zufallsapostel John Cage und Kagel. Es wird Tonband-Musik von Iannis
Xenakis geben, einen Film über die Studioarbeit von Luigi Nono, zudem Werke von Bernd Alois Zimmermann und György Ligeti.
Die »Schlüsselwerke« sind zentrale Bestandteil des Kölner ON-Netzwerkes, das seit Frühjahr dieses Jahres in der alten Avantgarde-Hauptstadt Köln noch einmal mit Nachdruck die Neutönerei propagiert.
Allein vom 28.11. bis zum 19.12. finden, neben dem Festival der Musikfabrik, noch sechs weitere von ON geförderte Veranstaltungen statt.
Mehr Informationen in unserer Konzertvorschau (ab S. 32), im Tages­kalender oder unter www.on-cologne.de