Foto: Andreas Harder

Abreißen, um aufzubauen

Es sind zwei Komponenten, weswegen das Zeitkratzer-Ensem­ble zu einer der außergewöhnlich­sten Erscheinungen der gegenwärtigen Musik zählt: Sie spielen Stücke von der Popkultur zugehörigen Musikern mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie sie Werke der Neuen Musik – von John Cage bis Helmut Lachenmann – aufführen. Und sie umgehen die Falle, popkulturelle Artefak­te 1:1 in »Klassik« bzw. »E-Musik« zu transformieren. Vielmehr entwirren sie einen höchst faszinierenden Graubereich, in dem die Übergänge von Pop (im weitesten Sinne) und Avantgarde (im klassischen Sinne) fließend sind.

Die Zeitkratzer-Musiker er­wei­tern einerseits den Kanon Neuer Musik, andererseits erkennen sie ihn genau dadurch an. Spektakulär gelang ihnen das, als sie vor einigen Jahren Lou Reeds »Metal Machine Music« für akustische Instrumente adaptieren. Im Original ein undurchdringlich­es Werk aus Feedback-Kaskaden, das über die Jahrzehnte ausschließlich als Anti-Geste, als Megastinkefinger einer launisch­en Rock-Diva rezipiert wurde. Die Zeitkratzer »retten« dieses Werk, indem sie es als erhabene Post-Minimal-Komposition spielten.

Mit einer aktuellen CD-Serie demonstrieren sie, wie die Heimatlosigkeit zwischen den musikalischen Genres sich als große Chance ihrer Kreativität erweist. Reinhold Friedl, in Berlin beheimateter Pianist und seit der Gründung des Ensembles 1997 seine wichtigste Konstante, und seine neun aus ganz Europa stammen­den Mitstreiter – Holz- und Blech­bläser, Streicher, ein Percussionist und ein Elektroniker – haben sich in den letzten Jahren Keiji Haino, Terre Thaemlitz und Carsten Nicolai eingeladen. Drei Musiker also, die in den 90er Jahren für den Neuaufbruch der Popkultur hin zu wieder experimentelleren Spielar­ten standen: Der japani­sche Gitar­rist Keiji Haino spielt Rock als frei fließenden White Noise; Terre Thaemlitz übersetzt die Codes der schwulen House-Szene New Yorks in krasse Musique Concrète; der Berliner Produzent Carsten Nicolai versucht sich an einer Intellektualisierung des Minimal Techno.

Diese Popsozialisation hallt denn auch in den Zeitkratzer-Adaptionen wider: Die CD mit
Haino klingt psychedlisch-euphorisch und free-jazzig entfesselt; die Thaemlitz-CD lässt den Hedonis­mus und den Rausch großer Club-Nächte aufblitzen; der Nicolai-CD eignet etwas Strenges und über­trieben Konzeptionelles.
Haino, Thaemlitz und Nicolai – keiner von ihnen dürfte sich in einem herkömmlichen Sinne als Komponist verstehen. Und selbst wenn – keiner wird für seine Stücke eine irgendwie sanktionierte Methode der Notation vorweisen können. Trotzdem spielen Zeitkratzer Kompositionen von Haino, Thaemlitz und Nicolai. Sie lassen sich mit den Musikern auf einen dialektischen Arbeitsprozess ein. Aus deren Klang­ideen, ihren spezifischen Spielhaltungen und Konzepten destillieren die Musiker um Friedl in langen Proben nach und nach »richtige« Stücke. »Richtig« deshalb, weil sie reproduzierbar und ins Repertoire des Ensem­bles aufgenommen werden, um dann auf ihren europäischen Konzertreisen aufgeführt zu werden.

Die Entstehung der Komposition erweist sich als lebendiger, offener, interaktiver Prozess zwischen den Interpreten (oft den Komponisten in konventionellem musikalischen Wissen und Können überlegen) und diesen großen Einzelgängern. Nicht, dass das Zeitkratzer Ensemble darauf ein Copyright hätte! Dass bedeutende Werke der Neuen Musik ohne die aktive Mitarbeit der Ausführenden niemals bedeutend geschweige ein Werk geworden wären – das ist, denkt man John Cage oder auch an die Konzept-Musik Karlheinz Stockhausens (»Kurzwellen«), ein alter Hut.

Aber Zeitkratzer drehen die Schraube noch weiter: Indem sie sich explizit auf musikalisches Material einlassen, das nicht dazu gedacht war, durch ein Kammer­ensemble »veredelt« zu werden; indem sie zudem die Komponisten einladen, aktiv an den Proben und schließlich den Aufführungen teilzunehmen. Für eine irrsinnig knallende halbe Stunde mutiert dann das Ensemble zur Keiji Haino Group – sie sind tatsächlich eine der besten Begleitbands, die der Noisegitarrist jemals um sich scharen konnte.

Aber braucht es eine Ansammlung von Virtuosen, um den schon lange bejubelten Haino nun auch als Meister der Neuen Musik zu verewigen? Bislang taucht aus den Reihen des Klassik- und Avantgarde-Betriebs der Vorwurf der Scharlatanerie auf. Aber Vorwürfe sind dazu da,
entkräftet zu werden. Die exzentrischen Kooperationen, die Zeitkratzer einzugehen bereit sind, bergen die Gefahr der Beliebigkeit. Sie wollen sich auch dieser Gefahr aussetzen, denn erst wenn man die oftmals spannungsgeladenen Probenprozesse durchschritten hat, ist klar, ob ein Soundkonzept mehr ist als bloß eine Idee.

Friedl will auf eine neue Form der Verbindlichkeit hinaus (weswegen die Stücke wiederholt aufführbar sein müssen). Auf dem Weg dahin muss man eben ex­perimentieren, das schließt Vorschnelles und Abwegiges ein. So dürften die hier zu hörenden Werke von Nicolai wenig Bestand haben, weil sie dem Minimalismus, wie er von Terry Riley, La Monte Young und James Tenney radikalisiert wurde, nichts hinzufügen. Dagegen klingen die zunächst sehr offensichtlichen Spielereien, wie sie Thaemlitz entworfen hat, im Resultat lebendig und frisch, überraschend und, aber ja doch!, verflixt groovy. Und wie die Zeitkratzer gemeinsam mit Keiji Haino aus diffusen Soundnebeln heraus zu einem mannigfaltig geschichteten und dabei absolut klaren Power Play stoßen, das muss man gehört haben!


Tonträger: Zeitkratzer mit Carsten
Nicolai, Terre Thaemlitz und Keiji Haino, 3CDs mit Textbeilage (Zeikratzer Records/Broken Silence); bereits erschienen.