Wenn andere schlafen

Mit seinen sechsbändigen »Stadtgeschichten« aus der »Schwulen-Welthauptstadt«

San Francisco schrieb sich Armistead Maupin zum Kultautor. Wie er mit seinem neuen

Roman »Der nächtliche Lauscher« in der Realität und Medialität der Jetztzeit

ankommt, hat Kirsten Dyrda nachgelesen.

»Meine Protagonisten waren ein bunter, liebenswerter Haufen, Menschen, die, in der Ironie unserer modernen Zeit gefangen, überlebten, indem sie ihre Freunde zur Familie machten.« Das sagt nicht etwa der US-amerikanische Autor Armistead Maupin selbst in einem Interview, sondern Gabriel Noone, Protagonist, Erzähler und Alter Ego des Autors in dessen neuem Roman »Der nächtliche Lauscher«. Damit kommentiert Maupin dennoch seine eigenen Werke und bereitet die Basis, den Schaffensprozess eines Schriftstellers darzulegen, zum einen. Zum anderen ist jene Fiktion einer warmherzigen Familie genau das, was der 13-jährige Pete Lomax, nächtlicher Lauscher der Hörfunkversion von Gabriels Geschichten, an Illusions-Balsam für seine Bedürfnisse verwertet – womit er stellvertretend für eine ganz Horde LeserInnen und ZuhörerInnen Maupins steht.
Gabriel Noone ist erfolgreicher Schriftsteller, dessen Geschichten sich auch als Radiohörspiel besonderer Beliebtheit erfreuen. Als sensibler Mittfünfziger mit großem Nestwärmebedürfnis wird er nach zehn gemeinsamen Jahren von seinem Lebenspartner Jess verlassen, der in einer »Newlife Crisis« steckt: dank neuer Medikamentencocktails blickt der HIV-Infizierte nun dem lange unerwarteten Überleben ins Auge. Zu diesem Zeitpunkt werden Gabriel die Fahnen eines Romans zugesandt, in dem Pete von seinem jahrelangen, von den eigenen Eltern geförderten und als Erwerbsquelle genutzten sexuellen Missbrauch erzählt. Mit Hilfe einer Telefon-Hotline und seiner Therapeutin Donna, die ihn später adoptiert, ist der Junge dieser »Kinderfabrik« entkommen. Gabriels »bunter, liebenswerter Haufen« wurde in der Folgezeit zu Petes Illusion von einer Ersatzfamilie und der Autor zu seinem Idol. Gabriel, mit einem Klappentextbeitrag beauftragt, ist zutiefst berührt von Petes Roman und nimmt telefonischen Kontakt zum inzwischen an Aids erkrankten Jungen auf. Eine Telefon-Beziehung mit beiderseits therapeutischem Charakter entwickelt sich. Aber wie verlässlich ist die übers Telefon vermittelte Realität? Bei einem seiner Besuche hat Jess sowohl Donna als auch Pete am Apparat und bezweifelt, dass es sich bei ihnen um zwei verschiedene Personen handelt...

Im Stil der mündlichen Erzählweise

Anfangs liest sich »Der nächtliche Lauscher« durchaus im Stil der »Stadtgeschichten«: seicht, aber sympathisch, mit melodramatischem Touch und einem Erzähler, der seine Geschichten zu dem ausschmückt, was gern als »größer als das Leben« bezeichnet wird. Erst später nimmt der Erzählrahmen eine deutlich komplexere Gestalt an als zu Stadtgeschichtenzeiten. Ein rein eskapistisch motiviertes Lesevergnügen wird fast unweigerlich durchkreuzt. Maupins Roman oszilliert inhaltlich wie formal zwischen Wahrheit und Illusion, zwischen Realität und Fiktion, sät Zweifel und wirft Fragen auf. Selbst die harten Fakten ausgesetzten HIV-Infizierten vermitteln dem Leser zwar etwas über ihre aktuelle Situation, dienen aber in erster Linie der Herausarbeitung des eigentlichen Themas – die Tücken der menschlichen Wahrnehmung.
In Subtexten verborgene Finesse gehört dabei allerdings noch immer nicht zu Maupins Stil, der seine Geschichte fast im Plauderton voranschreiten lässt. Der Autor Maupin, der einmal erklärte, sein Ziel sei es, stilistisch der mündlichen Erzählweise gerecht zu werden, bleibt auch hier seinen humorvoll-lebendigen Dialogen und seiner einfach strukturierten Erzählweise treu. Die so forcierte leichte Zugänglichkeit lässt nicht nur die Leser seine Geschichten gemeinhin verschlingen, damit ist er als Autor auch der Idealfall für Audioversionen. Als solche wurde »Der nächtliche Lauscher« in den USA erstveröffentlicht: nicht als Hörbuch, sondern im Dateiformat zum Download im Internet, eine Fassung, die inzwischen preisgekrönt und auch heute noch erhältlich ist.

Verarbeitung persönlicher Erfahrungen

»Du brauchst das Buch nicht mal zu schreiben. Du lebst es ja. Es ist alles da, du brauchst nur umzublättern«, bemerkt Jess einmal. Auf diese Weise mag Maupin schon seine Stadtgeschichten zu Papier gebracht haben. So lebensnah aber war für ihn vor allem »Der nächtliche Lauscher«, dessen Entstehungsgeschichte im Roman selbst verarbeitet ist, der zudem auf einer wahren Begebenheit beruht. 1993 erschien mit »A Rock and a Hard Place« die persönliche Missbrauchsgeschichte des 15-jährigen Anthony Godby Johnson, die in Amerika durch die Medien ging. Maupin schrieb einen Klappentext und war einer jener Prominenter, die mit dem Jungen über längere Zeit Kontakt pflegten. Da sich Johnsons Austausch mit der Welt auf Homepage, Chatrooms und Telefonate beschränkte, lernte ihn allerdings niemand persönlich kennen.
Maupin »verpackt« diese persönliche Erfahrung, die ihn unfreiwillig an die ihm neue vernetzte Welt heranführte, in eine Geschichte, die den realen Hintergrund weder erahnbar noch seine Kenntnis notwendig macht. Effektiv und ohne den Cyberspace auch nur nennenswert zu streifen, illustriert er dennoch Reiz und Zweifelhaftigkeit seiner gängigen Kommunikationsformen und schreibt damit – vielleicht nicht einmal ganz beabsichtigt – auch einen Roman über die Zeit des Jahrtausendwechsels. Pete ist hier nicht nur der nächtliche Lauscher von Radiogeschichten, der Junge wird vor allem zum nächtlichen Zuhörer, Vertrauten und Therapeuten Gabriels, indem er dessen Gefühls- und Beziehungschaos sortieren hilft, und Gabriel nimmt willig die ihm von Pete angetragene Position als Vaterfigur an. Es sind verzerrte Bilder vom »Gegenüber«, die hier aus fehlender Dreidimensionalität und dem akuten Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung entstehen.
Maupin arbeitet mit seiner Telefonkonstellation exakt eine Atmosphäre heraus, die das Ungreifbare und Unwirkliche einer Fernbeziehung ohne physische Präsenz nachempfindbar macht. Dank der Stimme des Gesprächspartners ist dies am Telefon durchaus weniger ausgeprägt als in der Kommunikations-»Realität« im Netz, an die aber jene unterschwellige Geisterhaftigkeit im Roman fast automatisch denken lässt. Vor allem dort ist das Projektionspotential enorm: »Allein-zu-Haus-im-Chatroom« zu sein geht mit einem wohligen Gefühl des Mittendrin einher, das durch Vertraulichkeit Vertrautheit und persönliche Nähe suggeriert, dabei aber Kontaktfreudigkeit zu einer virtuellen Erscheinung werden lassen kann. Die »Wahrheit der Imagination«, wie es im dem »Lauscher« vorangestellten Keats-
Zitat heißt, erblüht in neuem Licht.
Maupin geht nicht so weit mit seiner kritischen Betrachtung. Als Mittfünfziger in der virtuellen Welt nach eigenem Bekunden nicht gerade virtuos, lässt er seinen Protagonisten den Ausweg aus seiner Verwirrung über religiös anmutende Glaubensfragen suchen. Für Armistead Maupin, der hier laut PlanetOut-Interview auch die Trennung von seinem Partner Terry Anderson verarbeitete, bleibt im Zweifelsfall das Buch der Schlüssel zur Sinnstiftung. »Aus diesem Grund schreibe ich Geschichten: Sie helfen mir, Ordnung zu schaffen, wo es keine Ordnung gibt. Also jongliere ich mit Versatzstücken, bis sie einen Sinn ergeben, bis ich ein Muster erkennen kann.« Aber wer kann das schon?

Armistead Maupin: Der nächtliche Lauscher; Rowohlt, Reinbek 2002, 354 S., 19,90 EUR.