Allein auf weiter Flur

Artifiziell, grotesk, einzigartig: Mit »Songs from the Second Floor« kommt nach einem Vierteljahrhundert

wieder ein Spielfilm des schwedischen Sonderlings Roy Andersson in die Kinos.

Wie unverhältnismäßig weit das alles zurück zu liegen scheint: die Systemabsturz-Panik, die gefaketen Nostradamus-Prophezeiungen, die Ankündigungen überkandidelter Silvester-Events. Der ganze alberne Trubel kommt einem wieder in den Sinn, wenn in »Songs from the Second Floor« der glimpflich überstandene Milleniumswechsel plötzlich noch einmal bevor steht. In Roy Anderssons Film schlägt sich das Nahen des dritten Jahrtausend indes in Symptomen einer dräuenden Krise, in Flagellanten-Prozessionen und einem offenbar allumfassenden Verkehrsstau, nieder. Und in einer fehlgeleiteten Geschäftsidee: Basierend auf dem Kalkül, dass Jesus erst in weiteren 1000 Jahren erneut so wichtig sein werde, eröffnet in einer Nebenhandlung jemand einen Handel mit Kruzifixen.

Auffällig unaktuell

Solche auffällig un-aktuellen Fin-de-Siècle-Untertöne rufen ins Bewusstsein, wie lange es manchmal dauert, bis abseits des Mainstreams ausländische Filme endlich den Weg in deutsche Kinos finden. Bald zwei Jahre ist es her, dass Andersson in Cannes den Spezialpreis der Jury gewann. In diesem Fall hat der späte Starttermin allerdings einen unvorhersehbar positiven Effekt, denn er lässt den reizvollsten Aspekt dieses einzigartigen Films noch deutlicher hervortreten: Um zwei Jahre gealtert, scheint er nun vollends aus der Zeit gefallen zu sein.
Trotz der impliziten Datierung der Handlung verweist in den hochartifiziellen Bildern kaum etwas auf das Jahr 2000. Die in Anderssons eigenem Studio gebauten Sets werden von den Kameramännern Istvan Borbas und Jesper Klevenas in ein fahles Licht gehüllt, das gemeinsam mit den vorherrschenden ausgeblichenen Grüntönen den Bildern den Anschein verleiht, als hätten sie selbst Patina angesetzt. Als Referenz für die zeitlose, surreale Welt dieses Films wird gelegentlich Buñuel herbei zitiert; als Vorbild für den »Deadpan«-Stoizismus, der immer wieder unerwartet in richtigen Gags gipfelt, lässt sich Buster Keaton anführen; und die grotesken Karikaturen weltlicher und vor allem geistlicher Würdenträger sind vielleicht noch am ehesten dem Fellini von »Roma« verwandt. Doch es gibt keine lebendige Traditionslinie im internationalen Kino, an die diese Ästhetik anknüpfen könnte, in der aktuellen Filmlandschaft steht »Songs from a Second Floor« allein auf weiter Flur.

Exakt komponierte Vignetten und lose Handlungsfäden

Über dem Geschehen schwebt der Geist absurden Theaters, während Andersson selbst das japanische Theater als Referenz für die bleich geschminkten Gesichter seiner Darsteller nennt. Vor allem verweist er aber auf die Malerei als eigentlichen Vergleichsmaßstab für die 64 statischen, im Weitwinkel eingefangenen Tableaus, aus denen sein Film besteht. Nur grob sind diese exakt komponierten Vignetten durch ein paar spröde Handlungsfäden verknüpft, von denen der dominanteste von einem Möbelhändler handelt, der sein Geschäft zum Zwecke des Versicherungsbetruges in Brand gesetzt hat und über den Wahnsinn seines Sohnes, eines ehemaligen Dichters, klagt. Um ihn herum rollt eine Entlassungswelle an; ein Migrant wird auf offener Straße niedergestochen; und die alte Zaubernummer mit dem zersägten Mann geht schief. Der mehrfach beklagte Absturz der Börsenkurse und die Ratlosigkeit eines Expertengremiums, das nicht erklären kann, »warum wir uns nicht mehr leisten können zu arbeiten«, scheinen Bezüge zu aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen anzudeuten. Mit Honoratioren in Zylinder und Frack und dem Klerus werden in einer schier atemberaubenden Episode hingegen noch einmal die Zielscheiben des Autorenkinos vergangener Jahrzehnte aufs Korn genommen. Vielleicht ist dieser befremdliche Film ja doch schon wesentlich älter als das neue Jahrtausend.

Songs from the Second Floor (Sånger från andra våningen) DK/NOR/Schweden 00, R: Roy Andersson, D: Lars Nordh, Stefan Larsson, Bengt Carlsson, 98 Min. Start: 18.4.