Phil Petrocelli

Earth

Wenn in Pop-Diskursen demnächst gefragt wird, was von den 90er Jahren für die Gegenwart bleibt, dann dürfte ziemlich schnell dieser Name fallen: Earth. Und dieses Album: »Earth 2«. Das 1993 auf dem Grunge-Label Sub Pop veröffentlichtes Doppelalbum besteht ausschließlich aus ultraverlangsamten, irre tief runter­ge­stimmten Metal-Riffs, verzichtet auf Rhythmus, auf Dramaturgie, auf Abwechselung. Pure Wieder­holung des endlosen Dröhnens.
Und selbstverständlich war das keine Kunstmusik! Der Kopf hinter Earth – ebenso göttlich ­banaler wie dreist anmaßender Name! – war und ist immer noch Dylan Carlson: ein Proll aus Seattle, der sich mit »Earth 2« tatsächlich im Metal-Himmel wähnte, ein Grunger, der ab vom Wege kam. Carlson hatte nicht viel zu erzählen, die Musik hatte nichts zu erzählen, und so kaprizierte sich die Musikkritik auf die blutige Anekdote, dass sich Kurt Cobain mit einem Gewehr erschoss, das jener Carlson ihm beschafft habe (hat das mal jemand überprüft?).
Carlson verschwand bald von der Szene, just in dem Moment, in dem er aus Earth eine »richtige« Rockband machen wollte. Und er kam wieder, als er da weitermachen konnte, wo er mit »Earth 2« aufgehört hatte. »Hex: Or Printing in the Infernal Method« (2005) ist das Ende der gähnenden Leere und der Beginn von karger, ausgezehrter, verwaister Country-Musik (die im Prinzip immer noch wie Heavy Metal in Zeitlupe funktioniert).
Carlson hat seine Spur gefunden, Earth hat er zu einer festen Combo ausgebaut und kann endlich auf eine größere Gruppe gleichgesinnter Musiker bauen. Auf dem letztjährigen Album »The Bees Made Honey in the Lion’s Skull« setzen sie die Arbeit der Verfeinerung fort: Es sind »richtige« Songs die sie instrumental, ganz ohne Gesang spielen – zerdehnt bis ins Schlaffe (so muss das sein!), aber auch strukturierter und klarer. Die Stimmung ist aufgeräumter denn je.
Es ist, als ob jemand in einen Abgrund geblickt hat, Schwindel erregend tief, magisch anziehend, ein Todessog. Und dann wendet man den Blick ab, man schaut hoch, blickt in den Himmel. Aber der Abgrund ist immer noch da.