Formlosigkeit in Topform

Nikolas Steman bringt im Schauspielhaus Jelineks »Kontrakte des Kaufmanns« zur Uraufführung

Es ist lange her, dass es im Schauspielhaus standing ova­tions für eine Inszenierung gegeben hat. Erfolgsregisseur Nicolas Stemann, neben Jossi Wieler einer der zwei sogenannten Jelinek-Spezialisten unter den maßgeblichen Regietheatermachern, hatte dem Publikum dreieinhalb Stunden neuen Stoff der gleichermaßen gefeierten wie verhassten österreichischen Nobelpreisträgerin lässig serviert. Die Leute fanden es ziemlich genial.

Das ist schon eine Überraschung. Schließlich bietet Stemann mit dieser Arbeit keine leichtverdauliche Kost. Die Dramatikerin hat »Die Kontrakte des Kaufmanns« im Sommer 2008 fertig gestellt und darin die Finanzskandale der österreichischen Gewerkschaftsbank BAWAG und der Meinl-Bank verarbeitet. Eigentlich sollte das Stück erst später uraufgeführt werden. Doch angesichts der Wirtschaftskrise haben sich das Kölner Schauspiel und das koproduzierende Hamburger Thalia Theater entschlossen, das Stück jetzt zu bringen. Tagesaktuelle Bezüge wirken auf dem Theater oft aufgesetzt, hier aber werden sie zum Prinzip, es geht um nichts anderes mehr. Deshalb und durch die gleichzeitige formale Verdichtung und Überhöhung funktioniert es.
Formale Verdichtung? Gerade das doch nicht, wird mancher angesichts des ausufernden Abends einwenden. Doch es steckt in dieser bewussten Verweigerung einer fertigen Inszenierung immer noch genügend Plan. Sonst hätte sie nicht so positiv von Publikum und Tagespresse aufgenommen werden können. Vieles mag improvisiert sein, aber Ste­man weiß genau, was er, seine Schau­spieler oder das Bühnen­team tun.

Jelinek hat einen 99 DIN A 4-Seiten starken Fließtext ohne konkrete Figuren und mit nur einer groben Fünfteilung geschrieben. Eine einzige, sprachlich ins Groteske und Finstere überhöhte Suada, mal aus dem Mund der Kleinanleger, mal aus dem der Banker, mal vom »Engel der Gerechtigkeit«.

Den strudelnden Sog dieses Ergusses, der sich auf der Bühne erst so richtig vom Papier löst, nimmt Stemann auf und gewinnt daraus die eigenständige musikalische Grundierung des Abends. In Tempo und Volumen anwachsende Sprechverläufe der Figurengruppen wechseln sich ab mit mal immer bedrohlicher klingenden, mal nur entspannt plätschernden Musikphasen. Der Abend hat echte Konzertqualitä­ten. Außerdem ist er noch Performance und Installation.
Manche Kritiker haben die Frage gestellt, ob Stemann mit der Wahl dieser offenen Form sich nicht der Möglichkeit einer schärferen Analyse beraubt. Doch Analyse will auch Jelinek nicht. Jedenfalls nicht in einer einfach-verständlichen Form. Nein, die Inszenierung entwickelt mitreißende Momente. In ihnen zucken allemal genügend sprachliche Blitze, um zu verstehen, dass der Malstrom dieses Abends, nicht ohne den der Krise zu haben ist. Nur, das letzteren keiner verantworten will.

»Die Kontrakte des Kaufmanns«
von Elfriede Jelinek, R: Nicolas Stemann, Schauspielhaus, 30.5., 4., 10., 17., 22.6., 19.30 Uhr.