Unsere Zukunft

Wir nehmen die Bundestagswahl mal nicht zum Anlass, uns Gedanken zu machen, welche Weichen gestellt werden. Stattdessen entwerfen wir drei Zukunfts­szenarien, was Köln in den nächsten Jahren zu erwarten hat. Nichts ist ausgestanden, nichts ist erledigt: Weder die Krise, die bloß Sommerpause gemacht hat, noch die Fragen nach der inneren Aufrüstung oder dem New Green Deal.

 

Christian Frings fragt sich, was in Köln passiert, wenn das Geldsystem zusammen­bräche und der öffentlichen Verwaltung die Kontrolle über die Stadt entglitte. Die “Zehn Tage, die Köln veränderten“ erinnern nicht zuletzt an den Tumult in Buenos Aires, als dort vor acht Jahren die Banken krachten.

 

Außerdem im aktuellen Heft:

Jörg Kronauer verlängert die aktuellen Pläne zur Militarisierung der Polizei und zum Schutz der Inneren Sicherheit in die nahe Zukunft. Felix Klopotek skizziertt, welche Chancen die Krise für eine neue Ökopolitik bietet. Manfred Wegener hat die bewegendsten Szenen jener zehn Tage nachgestellt.

 

 

 

Noch Jahre später war unklar, was den Ausschlag gegeben hatte. Vielleicht war es die Kampagne Flatrate-Money gewesen, die Schüler des Berufskollegs Ehrenfeld entwickelt hatten. Die Blätter des Kölner Pressezaren, die nach dem »schwarzen«, oder – wie er jetzt hieß – »happy Frei-Tag« erstaunlicher­weise noch einige Wochen erschienen und von Familienmitgliedern in der Breite Straße verteilt wurden, nannten die Kampagne eine »lächerliche und subversive Fantasie von Feinden der freiheitlichen Grundordnung«. Der Auslöser sei in Wirklichkeit die in Köln wie im ganzen Land dramatisch eskalierte Kapi­talflucht gewesen. Dass im Niehler Hafen drei randvoll mit 50-Euro-Scheinen gefüllte Container von Zollfahndern sichergestellt worden waren, schien dies zu beweisen.

Flatrate-Money hatte ganz harmlos begonnen als Open-Source-Program­mier­pro­jekt, das dem Informatik-Lehrer etwas aus der Hand geglitten war. Eigentlich sollten die Schüler nur die Funktionsweise von RFID-Chips kennenlernen, um sich auf so spannende Berufe wie Einzelhandelsfachverkäuferin vorzubereiten. Nachdem sie herausgefunden hatten, wie sie die Chips mit ihren Handys umprogrammieren und das geordnete Preisge­füge der Warenhäuser besser auf ihre bescheidenen Azubi-Gehälter abstimmen konnten, entdeckten sie zufällig, dass sich das mit etwas mehr Aufwand auch an Geldautomaten prakti­zieren ließ. Ein Komiker aus der Klasse hatte die Idee der Flat­rate-Money, und in der Nacht von Donnerstag auf Freitag war das kleine Programm zum Runterladen durch ganz Köln getwittert. Die Geldautomaten wurden regelrecht leergeräumt.

Lange Schlangen vor den Banken

Am 16. April 2010, einem Freitag, bildeten sich ab acht Uhr morgens lange Schlangen vor den Banken. Nervöse Bankangestellte versuchten, die Leute zu beruhigen, während ihre Kolleginnen in den Büros fieberhaft mit Berlin und dem Zoll telefonierten. Aber aus der Bundesdruckerei war kein Nachschub mehr zu erwarten. Es wurde gemunkelt, dort sei ein wilder Streik ausgebrochen und ein Teil der Druckmaschinen sabotiert worden, aber es herrschte Nachrichtensperre. Zu allem Unglück weigerte sich das Hautpzollamt in der Stol­berger Straße aus kleinlich-bürokrati­schen Gründen, den Banken das im Hafen beschlagnahmte Altpapier zur Verfügung zu stellen. An allen neuralgischen Punkten der Stadt fuhren starke Polizeikräfte auf, die schon bald überfordert waren. Im Nachhinein wurde von Regierungsvertretern auch die takti­sche Fehlentscheidung des Oberbürgermeisters bedauert, der am Freitagnachmittag das Heimspiel des 1. FC wegen fehlender Einsatzkräfte vor Ort absagte und damit die Stimmung erst recht anheizte.

Gemessen an den Ereignissen der folgenden Tage verlief das erste Wochenende recht ruhig, nachdem die Straßenkämpfe am Neumarkt und in Chorweiler in den frühen Morgenstunden des Samstags abgeflaut und nur noch einige Tausend zum üblichen Straßenkarneval übergegangen waren. Ein Teil der Veedelskneipen hatte kapituliert und gab Freibier aus.

Auf hektisch einberufenen Ad-hoc-Treffen in der Alten Feuerwache diskutierten derweil die Linken aufgeregt, ob es sich um eine ganz normale Kreditkrise handele oder um die finale Zuspitzung des tendenziellen Falls der Profitrate. Trotz marxistischem Sach­verstand konnte bis Sonntagabend keine Einigung erzielt werden, ob im nächsten Schritt Kapitalschulungen vor den Geldautomaten abgehalten werden sollten, oder doch erst mal der WDR zu besetzen sei. Es fehlte auch immer noch das Kommuniqué, mit dem man sich als »Revolutionsrat« über das Fernsehen an die Massen wenden wollte. Komischer­weise saßen die auch gar nicht zu Hause vor den Fernsehern, um das aufmunternde »Völker hört die Signale« nicht zu verpassen.

Take two - pay zero!

Auf der anderen Rheinseite, in Mülheim, Vingst und Kalk hatten tausende Jugend­liche, denen nicht nur das Etikett »Migrationshintergrund«, sondern sonst noch einiges schon lange gewaltig auf die Nerven ging, den Reigen des fröhlichen gemeinsamen Einklaufens eröffnet. Ein paar unterbezahlte Copy-Shop-Beschäftigte druckten in einem Akt spon­taner Solidarität und in Anlehnung an die Tricks der Werbebranche entsprechende Aufkleber: »Take two, pay zero!«

Am Montag begannen die Streiks. Womit niemand gerechnet hatte: Als erstes traten die leidgeplagten Bankangestellten und eine radikale Minderheit der Kölner Polizei in den Ausstand. Die einen, verrückt geworden an den Verrücktheiten des Papiergelds, wie die anderen, völlig übermüdet und abgekämpft aus den Schlachten am Wochenende zurückgekehrt, erklärten den Reportern, sie wollten den Kopf nicht mehr für ein paar Ackermänner hinhalten und ihre eigenen Kühlschränke seien auch bald leer. Rund um das Polizei­präsidium kam es zu lang andauernden Kämpfen, bei denen – von beiden Seiten – von der Dienstwaffe Gebrauch gemacht wurde und sich das Geschehen immer mehr in die bereits verwüsteten Köln-Arkaden verlagerte. Ein ver.di-Sekretär, der beruhigend auf die streikenden Kollegen einzureden versuchte – »Kolleginnen und Kollegen, so können wir doch keine Tarifpolitik machen!« –, schien sich selber nicht wohlzufühlen in seiner Schutzweste. Wie er da, am ganzen Körper zitternd, mit seinem weißen Fähnchen in der Hand zwischen den Fronten stand, wollten einige fürsorgliche Kollegen der Polizeigewerkschaft »professionelle Hilfe« für ihn besorgen. Nur der schon in vollem Gange befindliche Streik des Pflegepersonals der Kliniken in Merheim bewahrte ihn davor, für seine Fehleinschätzung der Lage eingesperrt zu werden.

Diskussionen über Lehm- und Trockenbau

Nachdem sich am Dienstag weitere Betriebe der Streikbewegung angeschlossen hatten, begannen sich ab Mittwoch auf den Straßen wie an den Arbeitsplätzen Versammlungen zu bilden. Viele kleine Dinge wurden gleich umgesetzt, wie die Sicherung der Wasserversorgung durch Arbeitsbrigaden von den Fachschaften Biologie und Chemie zusammen mit den Streikenden der Rheinenergie; die Besetzung leerstehender Häuser mit tatkräftiger Hilfe rumänischer und weißrussi­scher Bauarbeiter, deren massenhafte Anwesenheit in der Stadt bisher niemandem aufgefallen war und mit denen sich auf den Ver­sammlungen dank einiger Studentinnen der Slavistik spannende Diskussionen über Lehm- und Trockenbau entwickelten; oder die Verlegung des Sonic Ballroom in die WDR-Studios. Natürlich tauchten auch die »großen Fragen« auf: Wie es auf den anderen Kontinenten aussehe, ob sich in Zusammenarbeit mit somalischen Piraten und subversiven GIs die angedrohte Verlegung der 6. Flotte auf den Rhein verhindern ließe, und überhaupt, wie das Zusammenleben von sieben Milliarden auf einer blauen Kugel ohne Geld vernünftig eingerichtet werden könnte …

Als am Mittwochabend die ersten Marxis­ten auf die Straße und zu den Ver­samm­lun­gen kamen, waren sie enttäuscht, dass ihre Predigten gegen die verdinglichte Erscheinungsform des Geldes niemand vom Hocker rissen – »Bruder, das haben wir doch schon getan« meinte ein marokkanischer Jugend­licher zu einem der Marxisten und legte zärtlich den Arm um seine Schulter. Er solle es sich nicht zu Herzen nehmen, auch sie hätten bis vor ein paar Tagen noch an Gott geglaubt. Das Gesamtplenum der Veedelsversamm­lungen verständigte sich schon am Donnerstag in der Kölnarena darauf, dass das mit dem Staat eigentlich noch nie eine gute Idee ge­wesen sei.

Am Sonntag, den 25. April 2010, kapitulierten die Polizeikräfte in aller Öffentlichkeit – wahrscheinlich weniger aufgrund der Kölner Ereignisse, sondern weil die Bilder aus Beijing, Johannisburg und Los Angeles sie end­gültig demoralisiert hatten. Noch Generationen später, nach vielen Rückschlägen und erneuten Anläufen, bis endlich die großen Fragen auf täglich neue Weise lösbar geworden waren, wurde davon gesprochen, wie viel in diesen zehn Tagen erreicht worden war. Es war soviel von den schlechten alten Gewohnheiten und Versteinerungen weg­geräumt worden, dass das Neue überhaupt getan und dann auch gedacht werden konnte.

Weitere Zukunftsszenarien findet Ihr in der aktuellen Printausgabe der StadtRevue