»Taking Woodstock«

Erst durch das Kino wurde Woodstock zur Legende.

Mit Ang Lees »Taking Woodstock« lebt sie zum 40. Jubiläum wieder auf

In einer der schönsten Szenen von Ang Lees neuem Film »Taking Woodstock« schlängelt sich ein Motorrad die von unzähligen Autos verstopfte Straße zum kleinen Ort Bethel hinauf. Am Lenker ein Polizist, der eigentlich gekommen war, um ein paar Hippies windelweich zu prügeln, nun aber genauso überwältigt ist wie alle anderen auch. Sein Passagier ist Elliot Tiber, der Mann, der das Woodstock-Festival auf die grünen Hügel seines verschlafenen Heimatstädtchens brachte. Gemeinsam sehen sie staunend dem Treiben der Blumenkinder zu und rollen an einem Kamerateam vorbei, das drei Nonnen erst ein Lächeln entlockt und der mutigsten unter ihnen schließlich das Friedenszeichen. In diesem Moment sind sich Lees Nostalgietrip und Michael Wadleighs berühmter Dokumentarfilm »Woodstock« ganz nah. Es ist nur eine flüchtige Begegnung, und doch lebt das damalige Gefühl von Liebe, Freiheit und Gemeinschaft wieder auf.

Auch ohne Michael Wadleighs 1970 erschienenen Film würde man sich an Woodstock erinnern. Aber das Konzert hätte wohl nicht dazu beigetragen, das Selbstbild einer ganzen Generation zu formen. Erst Wadleighs grandiose Dokumentation trug den Mythos in die Welt, wobei der Untertitel »Three Days of Peace & Music« schon das gesamte Programm enthielt: Knapp zwei Drittel des Films sind der Musik und den überwiegend im Split-Screen-Verfahren arrangierten Auftritten von Santana, Joe Cocker oder The Who gewidmet. Ein Drittel dreht sich um das nicht weniger wichtige Drumherum: Man sieht, wie das ursprünglich kommerzielle Festival aus allen Nähten platzt und durch die Hilfe von Nachbarn und Behörden zu einem freien Gemeinschaftserlebnis wird. Spätestens wenn die Armee Blumen und Decken auf die vom Unwetter überraschten Besucher regnen lässt, begreift man, warum die Wende zum Besseren damals zum Greifen nah erschien.
Ähnlich wie Dennis Hoppers »Easy Rider« feierte »Woodstock« den Hippietraum und nimmt zugleich das böse Erwachen in den Zwischentönen bereits vorweg. Auch Ang Lees hinreißende Komödie schließt mit einer eher düsteren Note, hält aber vor allem die ansteckende Aufbruchsstimmung in Erinnerung.

»Taking Woodstock« folgt der gleichnamigen Autobiographie Elliot Tibers, der anfangs lediglich im heruntergekommenen Motel seiner Eltern aushilft und an deren mürrischer Nörgelei beinahe verzweifelt. Um das Geschäft anzukurbeln, veranstaltet er jedes Jahr ein Festival, das mit provinziell noch freundlich umschrieben ist. Doch dadurch hat er genau die amtliche Erlaubnis in der Tasche, die den gerade aus einer anderen Gemeinde vertriebenen Woodstock-Organisatoren fehlt. Kurz entschlossen greift Elliot zum Telefon und stürzt sein Heimatdorf in ein Durcheinander epischen Ausmaßes.

Erst kommen Manager und Techniker im Hubschrauber angeflogen, dann Dutzende Handwerker, die Tag und Nacht durcharbeiten, um die Bühne rechtzeitig fertig zu stellen, und schließlich fallen annähernd eine halbe Million Besucher wie ein freundlicher Heuschreckenschwarm in Bethel ein.

Durch die Hintertür nähert sich Ang Lee dem Festival, um dort mit voller Absicht niemals richtig anzukommen. Die Musik weht als ferner Sirenenklang herüber, wenn der schüchterne Elliot zu einigen Nackten ins Seebad steigt, und auf dem Weg zur Bühne lockt ihn ein berauschtes Pärchen in sein LSD-Mobil. Immer wieder lenkt Lee vom Zentrum des Geschehens ab, um dem Woodstock-Gefühl an den Rändern umso schöner auf die Spur zu kommen. Sein Film erfüllt die uramerikanische Vorstellung, das Land könne sich jederzeit neu erfinden, mit so viel buntem Leben, dass er unweigerlich als Kommentar zu O­bama-Mania und Finanzkrise erscheint. Am Anfang geht es allen Beteiligten im Grunde nur ums Abkassieren, bis sie den Punkt erreichen, an dem Glück und Geld getrennte Wege gehen.

Obwohl dem Publikum auf den ersten Blick vieles vorenthalten wird, fehlt einem doch beinahe nichts. »Taking Woodstock« bezaubert durch seinen Reichtum an Charakteren, durch die Lebensfreude, die er in beinahe jeder Einstellung transportiert. Und nicht zuletzt erzählt der Film davon, dass, auch wenn die gesellschaftliche Revolution nicht stattfand, sie doch das Leben jedes einzelnen veränderte.

Taking Woodstock (dto) USA 09,
R: Ang Lee, D: Demetri Martin,
Imelda Staunton, Henry Goodman,
110 Min. Start: 3.9.

DVD, CD und Buch
Zum Woodstock-Jubiläum hat Warner eine »Ultimate Collectors Edition« von Michael Wadleighs Dokumentarfilm herausgebracht. Auf vier DVDs befinden sich der gegenüber der Kinofassung um 45 Minuten erweiterte Director‘s Cut, eine gelungene Dokumentation, in der vor allem Wadleigh und sein Produzent Dale Bell ausführlich zu Wort kommen, und als Sahnehäubchen beinahe drei Stunden unveröffentlichte Konzertmitschnitte. Darunter: Aufnahmen von Joan Baez, Santana und Jimi Hendrix sowie bislang schmerzlich vermisste Aufnahmen von Creedence Clearwater Revival oder Grateful Dead.

Mehr Musik bietet nur die sechs CDs umfassende Kompilation »Woodstock 40« (Warner Music), dazu sind neben Elliot Tibers »Taking Woodstock: Befreiung, Aufruhr und ein Festival« auch die ebenso aufschlussreichen wie kurzweiligen Erinnerungen des Konzertmanagers Michael Lang »The Road to Woodstock« erschienen. Den besten Blick von Außen bietet Frank Schäfers Buch »Woodstock 69 – Die Legende«.