Der Frühunvollendete

Nach sechsjähriger Übersetzungsarbeit erscheint »Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace auf Deutsch. Heiko Behr hat 1547 Seiten gelesen und meint: Es ist ein Ereignis

 

I
Vor einem Jahr beendete David Foster Wallace in seinem Haus in Kalifornien sein Leben. Zu diesem Zeitpunkt war er 46 Jahre alt, fast die Hälfte seines Lebens hatte er unter Depressionen gelitten. Gegen Ende muss ihn der Schmerz überwältigt haben. Er war Schriftsteller. Vielleicht einer der größten seiner Generation. Nun war er tot. Und Amerika reagierte: An seinen alten Unis fanden Gedenkveranstaltungen statt, bewegende Reden wurden gehalten, von seiner Schwester, seinem Verleger, seinen Freunden und Kollegen. Jonathan Franzen sagte: »Und jetzt hat dieser attraktive, brillante, lustige, freundliche Mann aus dem Mittleren Westen mit der fantastischen Frau und der tollen Unterstützung und der tollen Karriere und dem tollen Job an der tollen Uni mit den tollen Studenten sich das Leben genommen. Und der Rest von uns bleibt zurück und fragt: So yo then, man, what’s your story?«

II
David Foster Wallace wurde in eine skurrile Welt der Wörter hineingeboren. Seine Mutter, eine Linguistin, schenkte ihm als Kind Wörterbücher. Gemeinsam erfanden sie eigene Begriffe. Die Faszination muss ihm in die Wiege gelegt worden sein. Doch zunächst wurde er – Tennisspieler. Eine Zeit lang galt er als große Hoffnung für das amerikanische Tennis und kletterte bis auf Platz 17 der nationalen Rangliste. Dann studierte er am renommierten Amherst-College: Englisch und Philosophie, mit den Schwerpunkten Logik und Mathematik. Er bestand summa cum laude, eine Abschlussarbeit wurde ausgezeichnet, die andere wurde zu seinem ersten Roman: »Der Besen im System«. Er veröffentlichte Kurzgeschichten im New Yorker, unterrichtete an Universitäten. 1991 begann er seinen zweiten Roman, fünf Jahre später lag er in den Regalen. Leute wie Winona Ryder pilgerten zu seinen Lesungen. Er war ein Star. Mit einem vertrackten Monster von einem Buch.

III
»Infinite Jest«, auf Deutsch »Unendlicher Spaß«, ist ein wahrer Brocken mit seinen – im Original – rund 1100 Seiten. Ein Textgebirge, mit verschlungenen Pfaden, tiefen Tälern, schwindelerregenden Höhen. Mit an die 400 Fußnoten, eine ironische Referenz an seine akademische Prägung. Mit einem immensen Personalaufkommen. Hier der groteske Versuch einer Zusammenfassung des Inhalts: Wir befinden uns in der nicht allzu weit entfernten Zukunft, in einem Staatengebilde namens »Organisation der nordamerikanischen Nationen«, das von einem Schlagersänger regiert wird – und bekämpft von radikalen Separatisten aus Kanada. Außenpolitik spielt keine Rolle mehr, man ist energiepolitisch unabhängig geworden. Die Kommerzialisierung durchdringt jede Pore des Lebens, selbst die Zeit wurde verkauft: Statt 2009 heißt es jetzt das »Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche«. Das 17-jährige Tenniswunderkind Hal Incandenza hat in seiner Kindheit Wörterbücher verschlungen und studiert an der Enfield Tennis Academy in Boston, die sein Vater James einst gründete. In der Nähe liegt das Ennet-House, eine Entzugsklinik für Drogenabhängige, wo lange Passagen spielen. Dazu werden immer wieder Gespräche zwischen einem separatistischen Doppelagenten und seinem US-Kontakt in die Handlung geschnitten, manchmal mit fast philosophischem Ernst. Es geht um Tennis, Abhängigkeiten verschiedener Natur, Obsessionen, Depressio­nen, Drogen und die zunehmende Aushöhlung des Menschen. Um das verschwindende Ich, das langsam ersetzt wird durch die fremden Gedanken und Texte der Medien, der Werbung, der Regierung. »Infinite Jest« schließlich ist der Titel eines Films, den Hals Vater einst gedreht hat und der so komisch sein soll, dass die Zuschauer sich zunächst einnässen und dann langsam verhungern und verdursten. Die Separatisten möchten ihn gern in ihre Finger bekommen.

IV
O ja, es ist ein postmoderner Roman. Denn zur überwältigenden Fülle der reinen Handlung kommt die Sprache an sich. Einerseits setzt Wallace zum Beispiel medizinischen Fachjargon gnadenlos präzise und für den Laien unverständlich ein, andererseits tränkt er seinen Text mit einem Vokabular, das auch hochbelesene Menschen respektvoll einknicken lässt. (Wir erinnern uns, der Autor blätterte schon im Kindergartenalter in Wörterbüchern.) Dabei trifft er den Ton beeindruckend gut: Ob er den Slang afroamerikanischer Kinder (seitenlang!) in Rollenprosa wiedergibt oder sich detailgetreu im Kopf eines Psychiaters einnistet, der eine selbstmordgefährdete Patientin untersucht. Die Sprache in ihren unendlichen Verformungen, darum scheint es Wallace zu gehen. Um dem gerecht zu werden, suhlt er sich in barocken Beschreibungen, unglaublich gut geschriebenen Dialogen, verfolgt noch jedes Detail bis zum Ende. Auf insgesamt zwölf Seiten wird etwa die Filmografie von James Incandenza in den Fußnoten aufgelistet, ein Beispiel: »Attraktive Männer in kleinen durchkonstruierten Zimmern, in denen jeder Zentimeter Raum mit irrsinniger Effizienz genutzt wird. Unvollendet infolge Krankenhauseinweisung. UNVERÖFFENT­LICHT.« Ein anderes: »Spaß mit Zähnen. 35 mm; 73 Minuten; schwarzweiß; stumm mit nichtmenschlichem Gebrüll und Geheul. Parodie auf Kosinski / Updike / Peckinpah; Zahnarzt führt bei einem Akademiker, dem er eine Affäre mit seiner Frau unterstellt, sechzehn Wurzelkanalbehandlungen ohne Betäubung durch.« Es sind Stellen wie diese, an denen der Humor als Grundhaltung durchscheint, unbezwingbar, auch im Angesicht des größten Schreckens. Denn das darf man bei aller Ernst­haftigkeit, bei aller Opulenz, bei aller Gesellschaftskritik nicht vergessen: »Infinite Jest« ist ein saukomisches Buch.

V
Nach sechsjähriger Übersetzungsarbeit von Ulrich Blumenbach erscheint dieser Klotz nun also als »Unendlicher Spaß«. Gut 1500 Seiten sind es geworden, und man mag sich fragen, ob der Übersetzer den Titel wohl zwischenzeitlich nur noch mit grimmigem Nicken bedacht hat. Die Leistung ist kaum hoch genug anzusiedeln, eine labyrinthische Textarbeit muss es gewesen sein, die altertümlichen englischen Begriffe in vergriffenen Lexika des 19. Jahrhunderts aufzuspüren. Dass die atem­beraubende Eleganz des Originals nicht durchweg zu halten ist – in diesem Fall ein Allgemeinplatz, keineswegs eine Kritik an Blumenbachs Arbeit.

VI
Der Roman erscheint nun fast exakt ein Jahr nach dem Tod des Autors. Ein Zufall, der aber die Reaktionen in Deutschland bestimmt: Heute sind die Parallelen zwischen Autor, Figurenarsenal und Thematik viel offensichtlicher als 1996, als die schweren Depressionen von Wallace noch unbekannt waren. Man liest die düsteren Seeleneinblicke heute mit anderem Blick – als erfahre man aus ­erster Hand alles über den Autor. Der Selbstmord verleiht der Geschichte zusätzlich eine Schwere, eine Unausweichlichkeit, die das Buch im Grunde gar nicht ausstrahlt. Es wäre nämlich verkürzt und schlichtweg eine Unverschämtheit, allein den bio­­grafischen Aspekt zu sehen in diesem überaus beeindruckenden Buch. Dazu strahlt es einfach zu hell.




10.10., Schauspielhaus, 19.30 Uhr. Eine Kooperation von Schauspiel und Literaturhaus, mit Harald Schmidt, Joachim Król, Manfred Zapatka, Maria Schrader u.a. Im Anschluss moderiert Denis Scheck (»Druckfrisch«) ein Gespräch mit Ulrich Blumen­bach, dem Verleger
Helge Malchow und dem Ensemble. Eintritt 9-22 €.