Der große Graben

Neorealismus mit Hollywoodstar: Die US-Filmemacherin

Kelly Reichardt und ihr aktueller Film »Wendy & Lucy«

Kelly Reichardt behauptet in Interviews gerne, sich bei der Wahl ihrer Filmprojekte unter anderem von einem Kriterium leiten zu lassen: Der Stoff müsse eine Rolle für ihren Hund enthalten. Ihre goldbraune Promenadenmischung Lucy hasse es, alleine zu Hause gelassen zu werden. Das klingt wie ein netter PR-Witz, aber angesichts der bescheidenen Bedingungen unter denen die Filmemacherin arbeitet, kann man sich vorstellen, dass Hundesitting zu einem logistischen Problem werden kann.

Nachdem sie jahrelang erfolglos versucht hatte, in Hollywood ein Nachfolgeprojekt für ihren 1994 gedrehten Erstling »River of Grass«, eine charmante feministische »Bonny und Clyde«-Paraphrase, auf die Beine zu stellen, begnügte sich Reichardt damit, Kurzfilme auf Super 8 zu drehen. In diesem Format wollte sie auch »Old Joy« (2003) realisieren, bevor ihr Kameramann sie überredete, dafür wenigstens auf Super 16 aufzurüsten. Der Film über eine ebenso traurige wie bezaubernde Wanderung zweier ehemals enger Freunde wurde dennoch mit einer winzigen Crew und bei natürlichem Licht gedreht – unter solchen Umständen entstand auch »Wendy and Lucy«.

Zum läppischen Budget von 300.000 Dollar passt, dass Hündin Lucy eine der Titelrollen spielt, nachdem sie in »Old Joy« bereits hinter den beiden Protagonisten hergetrottet war. In der Rolle der Wendy mit Michelle Williams einen Hollywoodstar zu sehen, der für einen Oscar nominiert war, überrascht dagegen. Es ist aber ein umso eindringlicherer Beweis für die Überzeugungskraft von Reichardts unprätentiösem Naturalismus, dass sie Williams‘ Starstatus sofort vergessen lässt.

Wendy ist mit ihrem Hund in einem klapprigen Auto von Indiana, im Herzen der USA, nach Alaska unterwegs, wo sie einen Job in einer Fischfabrik zu finden hofft. Weil sie nur wenige hundert Dollar besitzt und ihren Wagen auch als Schlafgelegenheit nutzt, kommt es einer Katastrophe gleich, als in Oregon, unweit der US-Pazifikküste, der Motor den Geist aufgibt. Die Notlage verleitet Wendy zu einem Kleindiebstahl, der wiederum ein weiteres Malheur nach sich zieht: Nachdem sie ein paar Stunden unbeaufsichtigt war, ist Lucy verschwunden.

Die minimalistische Tragödie, die wie »Old Joy« auf einer Kurzgeschichte des Drehbuchkoautors Jonathan Raymond basiert, erinnert an Vittorio de Sicas »Fahrraddiebe«. Reichardt räumt selbst Ähnlichkeiten zu »Umberto D« ein, einem anderen neorealistischen Klassiker des Italieners. Sie und Raymond hätten sich zur Vorbereitung auch Filme des Neuen Deutschen Kinos angeschaut, aber beeinflusst seien sie in der Hauptsache von etwas anderem gewesen: »davon, in Amerika zu leben und mitanzusehen, wie der Graben zwischen Reich und Arm immer größer wird.« Reichardt hat mehrfach gesagt, dass in den USA die Abscheu gegenüber Armen, die sich nach dem Hurrikan Katrina auch gegen dessen Opfer gerichtet habe, den Anstoß zu ihrem Film gegeben habe. Die Handlung von »Wendy and Lucy« nehme jene beim Wort, die meinten, es bedürfe allein Eigenengagements, um sich aus den Fängen der Armut zu befreien.

Das klingt nach einer ­filmischen Versuchsanordnung. Doch die eindringliche, anhaltende Wirkung dieses leisen Films ergibt sich daraus, dass er keine offenkundigen Lesarten anbietet und schon gar nicht vordergründige Absichten spiegelt. Man kann spekulieren, dass Reichardt aufgrund eigener Erfahrungen eine besondere Affinität zu ihrer Protagonistin spürt: Sie sei in ihrem Leben schon genauso pleite wie Wendy gewesen und habe in New York jahrelang ohne eigene Wohnung bei Freunden gelebt. Aber wenn Wendy sich mit dem Parkwächter eines großen Drogeriemarktes über die wirtschaftliche Misere austauscht, sind die kurzen Dialogsätze nicht als politische Analysen gedacht. Und statt Zeichen des ökonomischen Niedergangs ins Bild zu rücken, beschränkt sich Reichardt darauf, nüchtern die anonyme Banalität der Handlungsorte abzubilden.

So kommt in diesem Film schließlich alles auf die Haltung gegenüber der Protagonistin an. Wendy ist in fast jeder Einstellung zu sehen, aber Reichardt behält ihr gegenüber eine genau dosierte, diskrete Distanz bei. Dass die junge Frau kontaktscheu und spröde ist, wird schon in der ersten Sequenz klar, in der sie auf eine Gruppe junger Landstreicher stößt, selbst gegenüber einem Parkwächter, der ihr unaufdringlich hilft, vermeidet sie Augenkontakt. Über ihren persönlichen Hintergrund wird nicht mehr verraten als das, was sich aus einem kurzen Telefonat mit ihrem Schwager und ihrer Schwester erschließen lässt.
Der Film buhlt nicht um Sympathie für seine Hauptfigur. Er heischt auch nicht um Mitleid, denn obwohl Reichardt andeutet, welche Gefahren jungen obdachlosen Frauen drohen, bleibt die Tragödie, die sich im Lauf von zwei Tagen abspielt, ganz und gar unspektakulär. Aber gerade weil der Film nicht um Mitgefühl wirbt und nicht behauptet repräsentativ zu sein, kann Williams ihrer Figur eine Präsenz verleihen, die den Zuschauer mit einer fundamentalen Frage konfrontiert, die Reichardt für den Film als zentral beschreibt: »Worin besteht die Verantwortung, die wir als völlig Fremde füreinander haben?«

Wendy & Lucy (dto) USA 08, R: Kelly Reichardt, D: Michelle Williams, Walter Dalton, Will Oldham, 80 Min.
Filmpalette, ab 17.12.