Wilde Kerle und müde Marionetten

 

Jenseits von »Harry Potter« und »Herr der Ringe«: Terry Gilliam, Jean-Pierre Jeunet und Spike Jonze versuchen der Fantasy die Fantasie wiederzugeben – mit unterschiedlichem Erfolg

Bazil bekommt en passant eine Kugel in den Kopf. Die Ärzte können nicht operieren. Er verliert Job und Wohnung, bis er auf einem Schrottplatz eine wunderliche Ersatzfamilie findet. Gemeinsam mit ihr plant er einen Rachefeldzug an jenen Waffenhändlern, die nicht nur an seinem Unglück, sondern auch am Tod seines Vaters Schuld tragen.
Erneut geht es bei Jean-Pierre Jeunet um eine sensible Seele, die sich in Moderne und Erwachsenenwelt behaupten muss. Seit der Kannibalen-Groteske »Delikatessen« (1991) steht seinen Helden dabei ein Ensemble aus kauzigen Außenseitern zur Seite: Hier sind es unter anderem eine Schlangenfrau, eine Zahlenfetischistin, eine menschliche Kanonenkugel und ein Mann, der die Guillotine überlebte.

Doch bei »Micmacs« tritt deutlich zutage, was bei Jeunets größtem Erfolg »Die zauberhafte Welt der Amélie« noch durch die reizende Audrey Tautou abgemildert wurde: Diese skurrile Welt hat Charme, aber keine Geheimnisse. Es gibt weder Schmutz noch Schatten. Wie eine minutiös zusammengebastelte Spieluhr tickt »Micmacs« allzu mechanisch, bewegt sich im Kreis.

In Terry Gilliams Kosmos hingegen wird in der Regel lustvoll verschlungen, ausgekotzt und weiter gerannt. Mit Collagen und Legetrick-Animationen verhalf Gilliam den legendären Monthy Python zu surrealen Bildern. Da wimmelt es von Nussknacker-Soldaten, Kopffüßlern wie aus einem Hieronymus-Bosch-Gemälde und tapsigen Monstern, die Goyas Kinderzimmer entfleucht scheinen. Auch sein jüngster Film »Das Kabinett des Doktor Parnassus« hat großartige Sequenzen: Eine Horde Russen rüttelt an einer in den Himmel ragenden Endlos-Leiter, ein sich aus dem Erdboden herausschraubender Riesenkopf entrollt aus einem aufklappenden Schlund eine meterlange Zunge – und dann singt ein Polizisten-Tanzballett in Strapsen einen Gassenhauer.

Leider sind diese cineastischen Perversionen in eine kreuzbrave Rahmenhandlung eingebettet, in der der Schausteller Doktor Parnassus dem Teufel seine Erstgeborene Valentina verspricht. In dieser Faust-Variation ist Jeunets Schrottplatz-Romantik durch Variété-Kitsch ersetzt: In malerische Lumpen gewandetes fahrendes Volk, Zirkuswagen, Fackeln und Ballerinen wirken – anders als in Gilliams Mittelalter-Zoten »Jabberwocky« oder »Die Ritter der Kokosnuss« – wie Konfektionsware. Einzig der Teufel hat und macht hier Spaß, genießerisch verkörpert von Tom Waits. Als wahrer Gegenspieler erscheint allerdings der opportunistische Nick, der dreimal in die Parallelwelt von Dr. Parnassus’ »Imaginarium« eintauchen darf. Der bei den Dreharbeiten verstorbene Heath Ledger wird dabei von Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell mit verblüffender Perfektion ersetzt.

Den Teufel, das Böse und den ganzen Rest hatte Gilliam in »Time Bandits« (1981) schmissiger hinbekommen, in dem eine Gruppe Zwerge Gott eine Karte klauen, mit der sie plündernd durch die Weltgeschichte reisen können, bevor sie im Finale auf einen lackledernen Sadomaso-Teufel stoßen. Als der kleine Kevin, Reisebegleiter der Zwerge, hustend aus dieser Parallelwelt erwacht, findet er sich im Kinderzimmer des gerade von einem Schwelbrand erfassten Elternhauses wieder.
Diese Reibung zwischen ungestümer Fantastik und Realität erscheint wie eine Inspirationsquelle für Spike Jonzes wunderbaren »Wo die wilden Kerle wohnen«, einer Verfilmung von Maurice Sendaks Kultkinderbuch. Wie in dem schmalen Bilderbuch segelt Max im Wolfskostüm zum Wunderland der Unholde, die er als König unterwirft, zähmt, zum Krachmachen anhält und dann verlässt. Diese antiautoritäre, anarchische Ausbruchsphantasie verbindet Jonze mit psychologischer Tiefe: Eine kurze Einführungssequenz skizziert die Ohnmacht von Max – der Vater ist fort, die Mutter hat einen anderen, die Schwester ist unerreichbar erwachsen. Ähnlich wie in einer Familienaufstellung verkörpern die übergroßen Zottelwesen – Carol, Ira, Douglas, Alexander, Judith und »KW« – unterschiedliche Personen, Projektionen und Persönlichkeitsaspekte im Seelenhaushalt des Neunjährigen.

Auch ohne jede Deutung hinterlässt »Wo die wilden Kerle wohnen« beim Zuschauer eine anhaltende Nachwirkung, weil er uns das elementare Erleben einer Kinderseele wieder in Erinnerung ruft: Dem enthusiastischen König-Werden und Burgen-Bauen folgen unvermittelt Augenblicke der Langweile. Wie in der Traumverschiebung tauchen Elemente und Emotionen aus der Realitäts­ebene auf, und plötzlich sind die wunderbaren Balgereien mit den wilden Kerlen von Eifersucht, Frustration und unterschwelliger Aggression durchdrungen. Jonze erzählt von scheiternden Selbstermächtigungsfantasien und vom Maßfinden eines Scheidungskindes – Max kehrt zurück, als er Frieden schließen kann mit der Trennung der Eltern.

Wo Jeunet nur mechanische Aufziehfiguren ins Rennen schickt und selbst bei Gilliam nur müde Marionetten herumbaumeln, haucht Jonze seinen Kreaturen richtiges Leben ein. Dazu braucht er nur nach innen zu schauen. Das unterscheidet ihn auch von den immer aufwändigeren Computerspiel-Adaptionen, Comic-Verfilmungen und Harry-Potter-Serien, die derzeit das Fantasy-Genre beherrschen.


Das Kabinett des Dr. Parnassus
(The Imaginarium of Doctor Parnassus)
F/CAN 09, R: Terry Gilliam, D: Heath Ledger, Johnny Depp, Colin Farrell,
122 Min. Start 7.1.

Micmacs (Micmacs à tire-larigot) F 09,
R: Jean-Pierre Jeunet, D: Dany Boon, André Dussollier, Nicolas Marié, 105 Min. Start: Der Film wurde nach Redaktionsschluss auf den Sommer verschoben.

Wo die wilden Kerle wohnen (Where the Wild Things Are) USA 09, R: Spike Jonze, D: Max Records, Catherine Keener, Pepita Emmerichs, 101 Min. Ist bereits gestartet.