Apocalypse Later

Die Welt, wie wir sie nicht kennen: Das Festival Stranger Than Fiction

zeigt eine Woche lang herausragende Dokumentarfilme

In seinem Leben ist Werner Herzog schon so oft in unwegsame Gegenden gereist, dass der Titel seines jüngsten Dokumentarfilms beinahe klingt, als wolle er einen Schlussstrich ziehen. Immer schon suchte Herzog »Begegnungen am Ende der Welt«, was also macht seine Reise in die Antarktis so besonders? Es ist der apokalyptische Unterton, der sich in seine Erzählung schleicht: Im möglicherweise nicht mehr ganz so ewigen Eis sieht Herzog sowohl das geographische Ende der Welt als auch alle Anzeichen für den drohenden Untergang der Menschheit.
Selbst als Apokalyptiker ist Herzog allerdings ein Entdecker geblieben. In der US-amerikanischen Antarktis-Kolonie McMurdo laufen ihm wie von selbst die Fantasten und Sonderlinge zu, denen er dann in bewährter Manier ihre sagenhaften Geschichten und Meinungen entlockt. Am exakten Südpol findet er unter dem Eis einen von Polarforschern errichteten grotesken Schrein, und auf seinen Stippvisiten bei diversen Forschungsstationen trifft er lauter Wissenschaftler, die nach unsichtbaren Welten suchen oder zu Einsiedlern geworden sind. Ein Pinguin, der unaufhaltsam in den sicheren Tod läuft, ist der tragische Held des Films – und zugleich unser Ebenbild.

Herzogs »Encounters at the End of the World« zählt zu den Höhepunkten des diesjährigen Dokumentarfilm-Festivals »Stran­ger than Fiction«. Dabei könnte das geheime Motto der Organisatoren nicht unpassender für Herzog sein: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah! Die Mehrzahl der Filme ist an der Kölner Hochschule für Medien (KHM) entstanden, bei anderen war der WDR als Ko-Produzent beteiligt. Das thematische Feld ist trotzdem weit gefächert und international: Es geht um jüdische Auswanderer und eine iranische Taekwondo-Olympionikin, um bewachte Wohnanlagen in aller Welt und um die britische Schriftstellerin Anne Perry, um Seminare zur Motivationstechnik und um die Wiederaufführung eines legendären Stücks der amerikanischen Theatergruppe Living Theatre.

Mit seiner dezidiert deutschen Thematik und seinem Kölner Protagonisten sticht Wilm Huygens »Der schwule Neger Nobi« schon wieder aus dem Programm heraus. Huygen porträtiert Andreas Göbel, einen homosexuellen Farbigen, der als »Mischlingskind« in der DDR aufwuchs und schnell ahnte, dass er in seinem Heimatland nicht glücklich werden würde. Er stellte einen Ausreiseantrag, wurde zeitweise von mehr als einem Dutzend IM bespitzelt und nach einem gescheiterten Fluchtversuch schließlich gegen West-Devisen ausgetauscht. Huygen unternimmt mit Göbel eine Reise in die Vergangenheit, die beinahe ohne Groll auskommt und auf bewegende Weise vom Staunen über die eigene Biografie erfüllt ist.

Ähnlich zurückhaltend nähert sich Fatima Geza Abdollahyan in »Kick in Iran« der iranischen Kampfsportlerin Sarah Khoshjamal und ihrer Trainerin Maryam Azarmehr. Sie begleitet die beiden bis zu den Olympischen Spielen von Peking und zeigt ganz nebenbei die gesellschaftlichen Brüche der islamischen Republik. Während sich Khoshjamal und Azarmehr nicht als Exoten, sondern als moderne Frauen verstehen, treffen sie im Alltag immer wieder auf eine väterlich-bevormundende Haltung, die selbst in unerschrockenen Taekwondo-Kämpferinnen vor allem das schwache Geschlecht erblickt.

Ein faszinierendes Frauenporträt zeichnet auch Dana Linkiewicz in »Anne Perry – Interiors«, wobei die Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die sich die Erfolgsschriftstellerin geschaffen hat, nicht weniger interessant ist als Perry selbst. In diesem Kreis dreht sich alles um die Autorin und gleichzeitig um die Tatsache, dass Perry als 15-Jährige mit einer gleichaltrigen Freundin deren Mutter tötete. Insbesondere die Interviews mit einer langjährigen Vertrauten lassen erahnen, dass Perrys erstaunliche Arbeitsdisziplin eine Form tätiger Reue ist.
So ähnlich wie sich Anne Perry eine persönliche Enklave geschaffen hat, suchen auch die Gesprächspartner von Corinna Wichmann und Lukas Schmid eine Zuflucht vor der Welt. In ihrem Film »Auf der sicheren Seite« öffnen sich die Tore dreier gated communities, deren Bewohner erstaunlicherweise jeweils lieber außerhalb geblieben wären. Beim südafrikanischen Ehepaar war es nach zwei Einbrüchen eine Frage der Sicherheit; der erfolgreiche indische Unternehmer beklagt, dass in seinem Land nicht halb so viel Ordnung herrscht wie in seiner vergleichsweise schlichten Wohnoase; und den amerikanischen Pensionär bedrückt, dass sich die Bewohner der bewachten Gemeinschaft nicht nur nach außen, sondern auch gegeneinander abschotten.
Mit dem Abschlussfilm des Festivals wird es dann noch einmal apokalyptisch. Werner Boote geht in »Plastic Planet« einer der folgenreichsten Erfindungen der Moderne auf den Grund und stellt alarmiert fest, dass niemand weiß, welche Stoffe im allgegenwärtigen Plastik verarbeitet werden und welche gesundheitlichen Auswirkungen sie auf den Menschen haben. Erste Forschungen lassen Böses ahnen: Möglicherweise tickt in der Tastatur, auf der dieser Artikel geschrieben wurde, eine Zeitbombe.



Filmvorführung:
Sa 30.1.- Sa 6.2., Filmpalette, Film­forum im Museum Ludwig. Weitere Infos auf www.filmfestivals-koeln.de