Foto: Jörn Neumann

Takt für Takt

Von Krise noch keine Spur: Auf der Kölner MusikTriennale werden die letzten Werke ­Karlheinz Stockhausens aufgeführt.

Felix Klopotek ­war bei den Proben dabei

Also noch einmal. Ein Abschnitt, eine Seite, vielleicht nur einige Takte. Noch einmal und immer wieder. Dabei sieht das, was Peter ­Veale, Edurne Santos und Piet van Bockstal da gerade machen, überhaupt nicht nach Schwerarbeit aus. Es hört sich auch nicht so an. Das Stück, was die drei proben, ist »Glück«, eine der letzten Kompositionen, die Karlheinz Stockhausen vor seinem plötzlichen Tod im Dezember 2007 fertigstellen konnte. »Glück« ist Teil des monumentalen, man darf ruhig sagen: monomanischen »Klang«-Zyklus, in dem Stockhausen es unternahm, den Tag zu komponieren. Was ihm beinahe auch gelang: 21 »Stunden« (die Längen der einzelnen »Stunden« sind nicht identisch mit einer astronomischen Stunde) hat er vollendet, sechs von ihnen sind noch nie aufgeführt worden. »Glück«, die achte »Stunde«, ist eine davon.

Mit dem »Klang«-Zyklus wandte sich Stockhausen kleinen Besetzungen und vermeintlich einfachen, zugänglichen Formen zu. »Glück«, ein Trio für Doppelrohrblatt-­Instrumente – Fagott, Englischhorn und Oboe – klingt verspielt und unbeschwert. Das ist Stockhausen? Der Meister des Brachialen und bisweilen größenwahnsinnig Verstiegenen? Wenn es sich für Sie einfach anhört, meint Peter Veale und muss dabei lächeln, dann sind wir offenbar dabei, alles richtig zu machen. »Einfach« sei das Stück nämlich nur für den Zuhörer. Also noch einmal der Abschnitt. Und noch einmal.

Kein Lead-Instrument, kein durchgehendes Tempo

Es ist die siebte Probe, jede dauert drei Stunden. Jeder der drei Bläser hatte zudem eine Einzelsitzung mit Kathinka Pasveer, eine der engsten Stockhausen-Vertrauten. Und es wird auch noch eine Generalprobe geben. Das sind ziemlich viele Proben, bestätigt Veale. Es gibt kein Lead-Instrument, kein durchgehendes Tempo, überhaupt variieren die Zeitmaße für die Instrumente jeweils enorm, es scheint beinahe unmöglich, die Stimmen zu synchronisieren. Zumal jeder Musiker selbst damit beschäftigt ist, die eigene Stimme – zwischen Zerklüftung und enormer Dichte – zu bewältigen. Ob sie das Stück schon mal durchgespielt hätten? Kopfschütteln – zu viele Informationen, zu viele Unwägbarkeiten, die Musiker müssen sich tatsächlich Takt für Takt vorarbeiten.

Die Pointe offenbart sich, wenn man weiß, wo Veale, Santos und van Bockstal proben: Im ehemaligen Viva-Studio im zweiten Tiefgeschoss unter dem Mediapark. Wo früher Charlotte Roche quasselte und das lustige »Wah-Wah«-Team halsbrecherischen Metal ihrer verschworenen Fan-Gemeinschaft darbot, türmen sich heute gigantische Schlagwerke, Bleche, Kesselpauken, schwere Basstrommeln, Tam-Tams, Glocken und Perkussion-Kram für jeder Klangschattierung. Das Doppelrohrblatt-Trio wirkt in diesem Ensemble ein wenig verloren. Okay, es ist gerade nicht aufgeräumt, aber sinnbildlich ist es schon: Wo früher Pop war, ist heute Neue Musik. Die musikFabrik –angesichts der Knochenarbeit am Stockhausen-Stück passt der Name ziemlich gut – bespielt seit zwei Jahren die ehemaligen Viva-Räumlichkeiten, übrigens auch öffentlich: Regelmäßig finden hier Konzerte und (Klang-)Ausstellungen statt. Die musikFabrik hat ein Händchen für Pop­ruinen: Zuvor residierte das sich selbstverwaltende Solisten-Ensemble am Maarweg in einem ehemaligen Schallplattenpresswerk der Emi. Am Ende regnete es durchs Dach.

Pro Tag bis zu 90 Einzelkonzerte

Die musikFabrik, das sind insgesamt 16 Musiker sowie eine kleine, fünfköpfige Verwaltung, wird Stockhausens »Klang«-Zyklus während der MusikTriennale an zwei Tagen und an neun Spielorten komplett aufführen – ebenfalls eine Premiere. Michael Bölter, einer der Projektmanager der musikFabrik, ist zufrieden, das kann man schaffen, meint er, man kann wirklich alle 21 Stücke hintereinander hören, man muss nur gut planen können. Die Triennale wird für ihren Höhepunkt eigens einen Routenplaner veröffentlichen. Bölter hat die Gesamtaufführung des Zyklus konzeptionell betreut und logistisch gestemmt. Auch das eine irrsinnige Anstrengung: Da die »Stunden« jeweils mehrfach gespielt werden, müssen pro Tag 86 bzw. 90 Einzelkonzerte koordiniert werden. Für jedes Stück wird geprobt, für jedes Konzert gibt es eine Generalprobe. Und dennoch müssen wir uns Bölter als glücklichen Menschen vorstellen: Weil seine Arbeit ganz auf das Gelingen eines künstlerischen Prozesses ausgerichtet ist. Das Elend der Kölner Kulturpolitik? Die künftig bankrotten Kommunen und öffentlichen Träger? Das alles scheint weit weg, wenn Bölter auf seinen Timetable blickt.

Ist es aber nicht. Ob wir auch die Krise zu spüren bekommen?, sinniert Bölter. Gute Frage. Er überlegt kurz. Indirekt schon. Die musikFabrik, 1990 in Düsseldorf gegründet, ist keine öffentliche Einrichtung. Zwar wird der Verwaltungsapparat vom Land bezahlt, für alles weitere muss das Ensemble Geld von Stiftungen und Sponsoren auftreiben. Nun muss man sich um ein Ensemble, das dem Ensemble Modern oder dem Klangforum Wien auf Augenhöhe begegnet und in dessen Kuratorium unter anderem Gerhard Richter und Bundestagspräsident Norbert Lammert sitzen, eigentlich keine Sorgen machen. Künstlerisch ist die Krise aber durchaus heikel. Wir leben von Einladungen, führt Bölter aus, und unsere Konzerte sind für die Veranstalter nicht billig, die Musiker kriegen ja kein Gehalt, die finanzieren sich über Gagen. Auch die hoch subventionierte Neue Musik ist von vollen Sälen abhängig, die Veranstalter müssen sich gegenüber den Sponsoren für die enormen Kosten rechtfertigen. Die Folge: Die musikFabrik wird immer häufiger eingeladen, die big names der Neuen Musik aufzuführen. Stockhausen. Mauricio Kagel. György Kurtag. Wolfgang Rihm. Manchmal wünschen wir uns, meint Bölter, mehr Musik von Komponisten zu spielen, die noch leben und unter vierzig sind. Schließlich verstehe sich die musikFabrik auch als Ensemble für die Musik des 21. Jahrhunderts.

Endzeitstimmung im Mediapark

Dieser Zwiespalt spiegelt sich im Großen wider – im Festival der MusikTriennale. Hundert Konzerte in drei Wochen wird es geben, das Programm »Heimat – heimatlos«, eine Art »Weltmusikalisierung« der E-Musik, ist fein ausbalanciert: Es gibt Konzerte für Kinder, viel Jazz, Klassik, von Peter Eötvös, einem der wichtigsten und produktivsten Stockhausen-Schüler, wird die Oper »Love and Other Demons« aufgeführt. Neue Musik des 20. Jahrhunderts wird zu hören sein – die »3. Region« von Stockhausens legendären »Hymnen« werden auch noch aufgeführt –, aber auch eine ganze Reihe von Uraufführungen zeitgenössischer Werke. Von Krise ist wenig zu spüren. Nur indirekt.
Das Programm eines der wichtigsten Musikfestivals in Deutschland muss sich im Titel zumindest zur Hälfte zu einer Heimat bekennen, musikalisch heißt das: zu einem gediegenen Wertkonservatismus. Ein kompromissloseres Festival – Tendenzen dahin hat es bei den letzten Triennale-Ausgaben gegeben; man denke an das Elektronik-Krach-Spektalel 2004 im Stadtgarten – ist aber offensichtlich gesellschaftlich-politisch im Moment nur schwer zu vermitteln.

Es ist Karfreitagnachmittag, die Stadt ist wie ausgestorben, der Mediapark könnte die Kulisse für einen dieser Endzeitfilme abgeben, in denen die Städte von Menschen verlassen sind und der letzte US-Marine gegen Zombies kämpft. Peter Veale, Edurne Santos und Piet van Bockstal proben immer noch »Glück«. Mittlerweile hat Kathinka Pasveer vorbeigeschaut, die das Stück am besten kennt und die Probenarbeit zuspitzt – noch kleinteiliger und detailversessener geht es jetzt zu. Noch einmal und noch einmal. Einen Unterschied kann der Laie schon lange nicht mehr hören. Das Stück, oder besser: die Abschnitte, die an diesem Nachmittag geprobt werden, klingen auch nach dem zwanzigsten Spiel sehr leicht und luftig. Aber mitpfeifen, das wird auch nach dem 21. nicht möglich sein.

MusikTriennale 24.4. bis 16.5.
­Stockhausens »Hymnen« werden am 5.5. in der
Philharmonie aufgeführt (Dirigent: Peter Eötvös),
der komplette »Klang«-Zyklus an acht bzw. neun
Spielorten am 8. ­und 9.5.
»Klang«-Planer auf www.musiktriennale.de/klang/manager/
Weitere Programmtipps stehen in unserer Konzert­vorschau und im Tageskalender.