Die Fabel als Findelkind

»La Pivellina« vereint das Beste von Dokumentar- und Spielfilm

Eine ältere Frau sucht ihren Hund. Sie läuft rufend durch ein tristes Wohngebiet, dessen einziger Farbtupfer ihr rot gefärbtes Haar zu sein scheint. Auf einem Spielplatz findet sie ein Mädchen, das allein auf einer Schaukel sitzt. Weit und breit ist niemand zu sehen, und die etwa zweijährige Kleine weiß nicht, wo ihre Mutter ist. Patrizia leistet ihr Gesellschaft, fragt sich, ob sie die Behörden verständigen soll, und nimmt das Mädchen, als die Dämmerung hereinbricht, in ihr nahe gelegenes Zuhause mit. In den Kleidern der kleinen Asia findet sie einen Zettel, auf dem die Mutter darum bittet, das Kind nicht zur Polizei zu bringen.

Mit ihrem wunderbaren ersten Spielfilm »La Pivellina« hätten Tizza Covi und Rainer Frimmel auch den Filmtheoretiker Siegfried Kracauer glücklich gemacht. Kracauer träumte von einem Kino, in dem das Beste von Spiel- und Dokumentarfilm vereint ist und sich die Realität in einer »leicht angedeuteten Erzählung« wie von selbst offenbart. Oft wurde er auf der Suche nach diesem Ideal nicht fündig. Jetzt könnte er »La Pivellina« getrost neben Robert Flahertys frühes Meisterwerk »Nanook, der Eskimo« stellen.

Tizza Covi und Rainer Frimmel haben bereits mehrere Dokumentarfilme gedreht, was man insbesondere an Frimmels beweglicher, stets auf Augenhöhe der Figuren bleibender Kameraführung merkt. »La Pivellina« schließt an ihren letzten Film »Babooska« an, in dem Covi und Frimmel den Alltag einer kleinen italienischen Zirkustruppe zeigen. Es ist ein karges Leben am Rande der Gesellschaft, aber eines, das trotz Armut seine Würde hat. ­Irgendwann während der Dreharbeiten müssen sich Covi und Frimmel an Kracauer erinnert haben. Sie beschlossen, einigen ­ihrer Protagonisten eine Geschichte, die nicht zu schwer trägt, auf den Leib zu schreiben, und ­kommen der Realität dadurch auf paradoxe Weise näher als jemals zuvor.

Das klappt filmisch auch deswegen so gut, weil die Darsteller allesamt Naturtalente sind. Am Schönsten ist jedoch, dass zu keinem Zeitpunkt die Mechanik einer klassischen Dramaturgie ins Geschehen eingreift. Die Fabel ist in »La Pivellina« das zweite Findelkind: Sie kommt von außen und bestimmt das Leben von ­Patrizia, ihrem Lebensgefährten Walter und dem 14-jährigen Nachbarsjungen Tairo so selbstverständlich, wie es die kleine Asia auf der Handlungsebene tut. Alles scheint möglich in diesem Film, von dem man beinahe annehmen möchte, dass ihn tatsächlich das Leben selbst schrieb.

La Pivellina (dto) A, I 09,
R: Tizza Covi, Rainer Frimmel, D: Patrizia Gerardi, Tairo Caroli, Walter Saabel,
105 Min. Filmpalette, ab 27.5.