Wenn die Nacht am tiefsten ist

Die 63. Filmfestspiele von Cannes: ein Rückblick auf Gewinner, Verlierer und die deutschen Beiträge

Es muss am Affengeist gelegen haben. Als am Sonntagabend die Jury um Tim Burton auf den 63. Filmfestspielen von Cannes den Gewinner der Goldenen Palme verkündete, wurde wahr, was unter Filmkritikern vorher eher scherzend als Vorhersage kursierte. Es lag einfach zu Nahe, dass der Regisseur von »Planet der Affen« einen Film auszeichnen würde, in dem ein als Affe wiedergeborener Mensch eine wichtige Rolle spielt.

Die Entscheidung für »Uncle Booonmee Who Can Recall His Past Lives« des Thailänders Apichatpong Weerasethakul ist eine kleine Sensation. Sie beweist Mut, indem sie den Fantastischen Film dem realistischen gleichstellt - insofern kann man hier in der Tat Burtons Einfluss vermuten. Denn an der Liste der Filme, die den Hauptpreis des wichtigsten Filmfestivals der Welt in den letzten Jahren gewonnen haben, fällt auf, dass es sich fast ausschließlich um Werke mit sozialrealistischem Anspruch handelt, meist nobilitiert mit einer politisch-humanistischen Botschaft. Ausgezeichnet wurden etwa zwei Mal die Brüder Dardennes mit ihren fast dokumentarischen Filmen über Schicksale am Rande der Gesellschaft, außerdem der Altmeister des Sozialrealismus Ken Loach und Laurent Cantets Problemschulen-Drama »Die Klasse«. »Uncle Boonmee« könnte kaum weiter von diesen Filmen entfernt sein – auch wenn Politik hier durchaus eine Rolle spielt.

Der Film handelt vom Nierenkranken Boonmee, der kurz vor seinem Tod vom Geist seiner verstorbenen Frau besucht wird und von jenem unheimlich aussehenden, aber freundlichen Affengeist mit roten Leuchtaugen, der sich als sein lang verloren geglaubter Sohn herausstellt. Boonmees frühere Reinkarnationen spielen – anders als der Titel suggeriert - keine Rolle, dafür aber seine Vergangenheit in diesem Leben. In einer Szene sucht er nach Gründen für seine Krankheit. Ihn plagt ein schlechtes Gewissen, weil er als Soldat so viele Kommunisten getötet hat. Seine Frau beruhigt ihn, dazu sei er ja gezwungen worden, doch was ist mit all den Käfern, die er auf dem Boden zertreten hat? Vielleicht waren das ja wiedergeborene Seelen.

Weerasethakul beschäftigt sich seit 2009 in seinem groß angelegten »Primitive«-Projekt, von dem »Uncle Boonmee« nur ein Teil ist, mit den Verbrechen der Armee gegen die kommunistischen Bauern im Norden Thailands seit den 60er Jahren. Doch die Goldene Palme lediglich als politische Unterstützung der Jury aus aktuellem Anlass zu werten, wäre sicherlich falsch. Sie ist im Gegenteil eine Auszeichnung für eine einzigartige filmische Vision, die aus einem von düsteren Problemfilmen bestimmten Wettbewerb so auffallend herausstach wie eine exotische Blume aus einem Lavafeld. Selten setzte in den letzten Jahren eine Juryentscheidung auf einem großen Festival so mutig ein Zeichen für ein enigmatisches Werk jenseits aller Konventionen.

Der Erfolg kam auch mit Kölner Beteiligung zu Stande. Als Koproduzent war ausgerechnet »Lindenstraße«-Erfinder Hans W. Geißendörfer beteiligt, ein Nachbar des britischen Produzenten des Films Keith Griffith. Den Weltvertrieb für den Film hat Match Factory übernommen, die im Agnesviertel ihr Büro haben. Auf Druck der Europäer hat Weerasethakul allerdings laut einem Bericht des Branchenblatts Filmwoche starke Kürzungen an der Rohschnittfassung von »Uncle Boonmee« vorgenommen, um überhaupt eine Chance auf eine Auswertung an europäischen Kinokassen zu bekommen.

Die kommerziellen Aussichten des Films dürften auch so - gerade in Deutschland -sehr bescheiden sein. Anlässlich des Festivals veröffentlichte Variety eine nach Ländern getrennte Auflistung der Einspielergebnisse der Cannes-Gewinner aus den letzten zehn Jahren. Die meisten spielten in Deutschland nicht einmal ein Zehntel des Geldes ein, das in Frankreich mit ihnen verdient wurde (Ausnahme: »Das weiße Band«). Frankreich bleibt in Europa das Land der Cinephilie.

Mehr Chancen in Deutschland dürfte »Des hommes et des Dieux« von Xavier Beauvois haben, der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, dem nach der Goldenen Palme wichtigsten Preis des Festivals. Er erzählt eine reale Begebenheit aus dem Jahr 1996. Damals wurden im algerischen Atlasgebirge eine Gruppe französischer Mönche, die bis dahin in Harmonie mit der muslimischen Bevölkerung gelebt hatten, von islamischen Fanatikern entführt und ermordet. Beauvois stellt in seinem Film das tägliche Leben der Mönche in den Vordergrund: die ständig wiederkehrenden religiösen Rituale, ihre harte Arbeit auf den eigenen Äckern und die medizinische Versorgung der Nachbarschaft. Als klar wird, dass die Gottesmänner in diesem Gebiet nicht mehr sicher sind, müssen sie sich entscheiden: zurück nach Frankreich oder am Ort den möglichen Märtyrertod in Kauf nehmen? Ein wenig zu idyllisch schildert Beauvois das Klosterleben, doch ohne Zweifel hat der Franzose einen ergreifenden Film gedreht über Macht und Ohnmacht von Glauben und Pazifismus.

Es war dieses Jahr gefährlich Protagonist in einem der Wettbewerbsfilme von Cannes zu sein: In »Des hommes et des Dieux« werden am Ende sechs der acht Hauptfiguren ermordet, in Rachid Boucharebs Epos aus dem algerischen Widerstand »Hors la loi« zwei von drei von der Polizei getötet, bei Ken Loachs Irakkriegs-Thriller »Route Irish« fällt der eine Protagonist einer Verschwörung zum Opfer, der andere bringt sich selber um; in Chang-dong Lees mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichneten »Poetry« begeht die alzheimerkranke Großmutter eines jugendlichen Vergewaltigers Selbstmord. Doch am härtesten trifft es den mit dem Preis für den besten männlichen Darsteller ausgezeichneten Javier Bardem in »Biutiful« (sic!) von Alejandro González Inárritu. Er spielt einen alleinerziehenden Vater zweier minderjähriger Kinder, der sich kurz vor seinem Krebstod auch noch mitschuldig macht am Tod von 25 illegalen chinesischen Einwanderern. Inárritu türmt eine Schicksalslast nach der anderen auf Bardems hängende Schultern, sodass der finale Tod dieses modernen Hiob nur wie eine Erlösung wirken kann. Der Mexikaner glaubt scheinbar, die einfache Addition von Leid würde automatisch großes Drama ergeben. Eine Fehlkalkulation: Die mechanische Leidenseskalation in »Biutiful« lässt den Zuschauer zunehmend auf Distanz gehen.

Deutsche waren dieses Jahr nur in den Nebensektionen des Festivals vertreten, am prominentesten Christoph Hochhäusler und Oliver Schmitz in der renommierten Reihe Un Certain Regard. Wobei Schmitz zwar seit einigen Jahren in Deutschland arbeitet, aber in Südafrika geboren wurde. Dort spielt auch sein Film »Life Above All«, in dem ein zwölfjähriges Mädchen jäh in die Erwachsenenwelt geworfen wird, als die Mutter an AIDS erkrankt. Es ist perfekt gemachtes Betroffenheitskino, das zu erwartbar das Bild von Afrika als Katastrophenkontinent fortschreibt.

Wesentlich kühler und reflektierter erzählt Hochhäusler in »Unter dir die Stadt« die Geschichte einer Amour fou im Frankfurter Bankenmilieu. Dass Irrationalität und Leidenschaft gerade in einer Welt, in der nur Zahlen und Macht zählen, immer knapp unter der oberflächliche lauern, zeigt der Film in bestechenden Bildern aus dem Innern der Bankhäuser, in denen hinter viel Glas Transparenz nur vorgegaukelt wird. Von der internationalen Presse wurde der Film gelobt, in Deutschland eher verrissen. Dabei ist es Hochhäusler hoch anzuerkennen, dass er einer der wenigen deutschen Regisseure ist, die auch formal etwas wagen.

Nicht alles gelingt dabei natürlich, spannend ist es allemal. Das sieht offenbar auch Cannes-Chef Thierry Fremaux so, bei der Premiere von »Unter dir die Stadt« erklärte er überraschend, dass Hochhäuslers nächster Film wohl nicht mehr in einer Nebenreihe laufen würde. Das konnte man nur als Versprechen deuten, dass der 1972 geborene mit seinem nächsten Langfilm im Wettbewerb des Festivals vertreten sein wird.