Offen, ­informiert, klug

Die Regisseurin Philine Velhagen und ihr neues

Stadtraumprojekt »Der Schatz im Niemands­land«

 

Fragt man Philine Velhagen nach dem Ausgangspunkt für ihr aktuelles Theaterprojekt »Der Schatz im Niemandsland«, dann geht es los mit einer Geschichte, die zur urbanen Legende taugt: Um drei Ecken hört sie vom Vorstandsmitglied einer großen deutschen Bank, der die wirtschaftliche Zukunft düster sieht und aus diesem Grund in aller Heimlichkeit nur mehr wertbeständige Investitionen tätigt: in Alkohol und Gold. Die Fantasie der Regisseurin ist damit in Gang gesetzt. Wo steckt der Schatz des Bankvorstands? Kommt jetzt der große Verteilungskampf? Wie fasse ich ihn in pathosfreie Theaterbilder?

Seit 2004 inszeniert die Regisseurin ihre Arbeiten nicht mehr auf der Grundlage von Theatertexten, sondern entwickelt ihre eigenen Stücke. Dafür braucht sie: Mut, Humor, Neugier. Und Input. Die 38-Jährige liest und hört in die Breite und in die Tiefe und erweist sich als wache Beobachterin gesellschaftlicher Phänomene und Befindlichkeiten. Für die aktuelle Produktion hat sie Aldous Huxleys Roman »Brave new world« wiederentdeckt, dessen Dystopie sie nahe an unserer Wirklichkeit sieht. Etwa dahingehend, wie sehr unsere Identität an Konsum gekoppelt ist. Nur, dass wir keine diktatorische Macht für Einflüsterungen brauchen, sondern uns freiwillig die Laune mit Neuro-Enhancern aufbessern und Bürgerrechte aus Bequemlichkeit nicht mehr wahrnehmen.

Velhagen hat wohl begründete Standpunkte zu gesellschaftlichen Reizthemen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen, denkt die These von Medienphilosoph Boris Groys nach, dass Europas Rohstoff der Sozialstaat sei. Sie wird aber trotz der Ernsthaftigkeit der Gedanken weder schwermütig noch verbissen und findet wohl auch deswegen Parallelen in anderen künstlerischen Bereichen mit vergleichbar selbstironischem Ansatz. Zum Beispiel bei der Band Tocotronic, die »Im Zweifel für den Zweifel« konstatiert oder bei Britta, die in ihrem Song »Wer wird Millionär?« fragen: »Bin ich noch Bohème oder schon Unterschicht?«

Charlie Chaplins Stummfilm »Goldrausch« von 1925 zeigt ihr, was mit Menschen passiert, die ganz wörtlich nichts mehr zu beißen haben und gehört ebenso in die Ideen- und Werkzeugkiste wie ein Blick aufs mittägliche »Unterschichten-Fern­sehen«: Neben den negativen voyeuristischen Aspek­ten sieht sie in manchen Fällen auch emotionale Kraft – und ist davon gerührt, wie sie sagt. Auch wenn es nicht politisch korrekt ist. Genau so wenig wie der Umstand, dass sie in ihrer Theaterarbeit die Katastrophe als Chance durchspielt. Als Chance auf eine neue Ebene der Kommunikation, und sei es, weil man sich aus finanziellen Gründen mit Wildfremden ein Bier teilen muss; als Chance aber auch auf das Ende unserer lähmenden Entscheidungsfreiheit; als Chance auf das, großes Wort, Ende des Kapitalismus.

In Velhagens Werkzeugkiste gehört aber auch ihr Produktionsteam, sozusagen. Sie vertraut Nor­bert Truxa, Ausstatter, Mit-Produzent und Mit-Denker bei »Der Schatz im Niemands­land«, sie vertraut ihren Schauspielern, dies­mal u.a. wieder ­Maren Schlüter und Mirko Monshausen, die schon beim Stadt­­raumstück »Stadt.Liebe« 2008 dabei waren. Häufig sind es gute Bekannte, oft auch Freunde. Die offenen Inszenierungen der Regisseurin profitieren vom Prozessualen ihrer Arbeitsweise. Geradlinigkeit greift für sie zu kurz, sie braucht Zweifel, damit sich ihre Gedankenwelt und damit ihre Kunst entwickeln können, und muss dann aufpassen, dass es nicht zu viele Zweifel werden.

Ihre Arbeit in der freien Szene macht sie »total zufrieden«. Abgesehen von der materiell-existenziellen Unsicherheit, versteht sich, mit der sie produktiv umzugehen versucht. Es gilt, das jeweils geeignete Format für das vorhandene Budget zu finden. Für die aktuelle Produktion bedeutet das, es gibt nur zwei Probenwochen, die vor allem auf ein Arrangieren hinauslaufen. Die hauptsächliche Textarbeit hat die Regisseurin, die eigentlich so gerne aus der Improvisationsarbeit der Schauspieler schöpft, dann bereits erledigt. Immerhin tritt bei der »Schatz im Niemandsland« der WDR als Kooperationspartner auf und ermöglicht theatergemäße Live-Technik statt vorproduzierter Einspielungen. Mithilfe des Equip­ments werden Velhagen und ihr Team die Zuschauer am Aachener Weiher, dem Ort des Geschehens, in eine Parallelwelt, in ein neues Stadtraum-Spiel schicken.
Velhagen gesteht sich zu: »Die Anmaßung, eine Welt zu erschaffen, macht jetzt Spaß.« Mit offensichtlicher Bewunderung und Begeisterung spricht sie über die Arbeiten der französischen Künstlerin Sophie Calle, die die Methode, private Gefühlskatastrophen zu sehr persönlich geprägter, aber doch allgemeingültiger Kunst zu verarbeiten, auf die Spitze getrieben hat. Zum Beispiel indem sie den zwiespältigen Abschiedssatz eines Geliebten von 107 Frauen aus unterschiedlichsten Berufen interpretieren ließ.

Privates in der Öffentlichkeit, damit spielt auch Velhagen. »Stadt.Liebe« konnte die Zuschauer problemlos mitnehmen zu einem theatralen Gang durch die Stadt, der, auch, auf einer persönlichen Trennungserfahrung be­ruhte. Es gibt also keinen Grund, darüber zu grübeln, welche Berechtigung ihre Kunst hat. Nichtsdestoweniger arbeitet sich Philine Velhagen an der Frage weiterhin ab. Nach sieben Jahren als Regisseurin zwischen München und Köln, wo ihr Wohnsitz liegt, hat sie sich freigemacht von dem Totschlagargument, dass Kunst ultimative Welt­erklärung sein muss. Jetzt betreibt sie einfach zeitgemäße Theaterarbeit: informiert, offen, klug und verspielt.

»Der Schatz im Niemandsland«,
Idee, ­Realisation: Philine Velhagen;
Künstlerische Mitarbeit: Norbert Truxa.
4. (P), 5., 6., 7., 8.8., 19.30 Uhr. Treffpunkt: ­
Aachener Weiher/ Baumpaar am Fuß des Hügels. Begrenzte Zuschauerzahl, karten@ultraviolett.me oder T: 276 224 01