Die Tarantino-Festspiele

 

Laut, blutig, inspirierend: Ein Rückblick auf das 67. Internationale Filmfestival von Venedig

Schwarze Ray Ban, schwarzer Anzug, weißes Hemd - in voller Blues-Brothers-Montur predigt Quentin Tarantino sein Evangelium: »Es ging ums Kino. Politik? Äh!« Er macht eine abfällige Geste. »Alles andere? Äh!« Sein Gesicht verzieht sich. »Es ging ums Kino, was uns bewegt hat, was wir geliebt haben, worüber wir diskutieren konnten, was in unserer Wertschätzung gewachsen ist.«


Der 47-Jährige steht auf der Bühne des Palazzo del Cinema, um als Jurypräsident die Preisträger der 67. Filmfestspiele von Venedig bekannt zu geben – und betont, dass alle Entscheidungen einstimmig gewesen seien. Vielleicht war es so. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat Tarantino einfach mit seinem unbändigen Enthusiasmus und seiner unerschöpflichen Energie seine Mitjuroren, darunter Komponist Danny Elfman, Drehbuchautor Guillermo Arriaga und Regisseur Arnaud Desplechin, in Grund und Boden geredet; sie umschmeichelt, bekniet, überredet, um seine Kandidaten durchzudrücken. Denn die diesjährigen Preise des ältesten Filmfestivals der Welt tragen so unverkennbar seine Handschrift, dass man lange suchen müsste, um einen ähnlichen Fall zu finden.

Den Goldenen Löwen übergab Tarantino Sofia Coppola für ihren vierten Langfilm »Somewhere« - die beiden sollen 2004 ein Paar gewesen sein. Regie- und Drehbuchpreise gingen an Álex de la Iglesia - der gerne als der »spanische Tarantino« bezeichnet wird. Der Spezialpreis für das Lebenswerk wurde dem US-Regisseur Monte Hellman verliehen – eine Art Mentor für Tarantino, denn er produzierte sein Debüt »Reservoir Dogs«.

Nicht, dass der Hauptpreis des Festivals für Coppola völlig unverdient gewesen wäre. Aber in einem Wettbewerbsprogramm, das vom provokanten Extrem-Minimalismus eines Vincent Gallo (»Promises Written on Water«) bis zum überbordenden historischen Fantasy-Kampfkunst-Spektakel eines Tsui Hark (»Detective Dee and the Mystery of Phantom Flame«) die ganze Bandbreite modernen Kinoschaffens vereinte, war »Somewhere« ein Mauerblümchen. Vor allem wirkt der Film eher wie ein Rückschritt im Schaffen der 39-Jährigen.
Hatte sie mit ihrem letzten Werk »Marie Antoinette« zwar kein inhaltliches Neuland beschritten – wie schon in ihren vorigen Filmen ging es um ein »poor little rich girl« -, so versuchte sie sich zumindest an einem historischen Stoff, der ein größeres Budget und eine aufwändigere Recherche verlangte als »Virgin Suicides« oder »Lost in Translation«. Nachdem dieser Versuch allerdings floppte, hat sie sich wieder ganz auf das zurückbesonnen, was sie kennt: das bitter-süße Leben der Privilegierten der kreativen Klasse.
Im Mittelpunkt von »Somewhere« steht der fiktionale US-Filmstar Johnny Marco (Stephen Dorff). Er lebt ein Leben voller Privilegien: In der Garage steht ein schwarzer Ferrari, er wohnt im legendären Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard, er kann jede Frau haben, die er möchte, und Partys feiern bis in die Morgenstunden. Doch natürlich bietet ihm dieses Leben keine Erfüllung: Bei einer privaten Stripshow schläft er ein, auf den Partys steht er gelangweilt herum und das Hotel ersetzt keine wirkliche Heimat. Eine Wende in seinem Leben deutet sich erst an, als er eines Tages gezwungen ist, längere Zeit mit seiner 11-jährigen Tochter zu verbringen. Eine vorhersehbare Pointe - besonders von einem Mitglied des berühmtesten Film-Clans Hollywoods: Nur die Familie kann gegen den oberflächlichen Star-Rummel immunisieren.

»Somewhere« ist eine wunderbar gefilmte (wie immer herausragend: Kameramann Harris Savides) und auf den Punkt gebrachte Mischung aus Drama und Komödie mit einem perfekt besetzten Hauptdarsteller, aber man wird das Gefühl nicht los, dass Coppola wie eine ewige Debüt-Autorin nicht darüber hinaus kommt, Geschichten aus ihrem Tagebuch zu verfilmen – daran ändert auch nichts, dass ihr Protagonist diesmal ein Mann ist.

Drei Regisseurinnen waren im Wettbewerb von Venedig vertreten, nicht viel bei insgesamt 23 Filmen, die um den Goldenen Löwen konkurrierten, aber deutlich mehr als in Cannes, wo im Mai nicht eine einzige Frau eingeladen war. Auch im Hinblick auf das Alter setzte man Zeichen gegen den Konkurrenten aus Frankreich: Das Durchschnittsalter der Regisseure und Regisseurinnen war nach Angaben des Festivals das bisher jüngste in der Geschichte des Festivals.

Zu den großen diesjährigen Entdeckungen gehörte die mit 40 Jahren für Filmemacher noch recht junge griechische Regisseurin Athina Rachel Tsangari. Ihr zweiter Langfilm »Attenberg« wurde von der Jury mit der Coppa Volpi für die beste weibliche Hauptdarstellerin ausgezeichnet - benannt ist der Preis übrigens immer noch nach Graf Giuseppe Volpi di Misurata, ein früher Förderer des italienischen Faschismus’, der 1925 von Mussolini zum Finanzminister ernannt wurde.

»Attenberg« hätte allerdings eher den Regiepreis verdient, denn Tsangari schafft eine höchst originelle Filmsprache, die so disparate Einflüsse wie Monty Python, Pina Bausch, Michelangelo Antonioni und Robert Bresson verbindet. Erzählt wird die Geschichte der 23-Jährigen Marina, die mit ihrem sterbenskranken Vater in einem surreal wirkenden Industriestädtchen an der griechischen Küste lebt. Menschen findet sie eher seltsam, daher hält sie sie auf Distanz. Stattdessen hört sie den ganzen Tag die Musik der New Yorker Proto-Punks Suicide und schaut Naturdokumentationen von Sir David Attenborough. Absurd-komische Tanzeinlagen der Protagonistin und ihrer besten Freundin kommentieren ähnlich wie der Chor im klassischen griechischen Drama immer wieder die Handlung. Den Weltvertrieb für »Attenberg« hat die Kölner Firma Match Factory übernommen, man kann nur hoffen, dass der Film den Weg in hiesige Kinos finden wird.
Das gilt auch für den Western »Meek’s Cutoff« von Kelly Reichardt, der dritten Regisseurin im Wettbewerbsprogramm. Leider ging der Film der Mittvierzigerin bei der Preisvergabe leer aus. Die ungewöhnlicherweise im klassischen Normalformat (1,37:1) gedrehte Geschichte eines verirrten Siedlertrecks durch Oregon im Jahr 1845 stieß beim Spaghetti-Western-Fan Tarantino offensichtlich auf wenig Gegenliebe. Kein Wunder: Die Ästhetik von »Meek’s Cutoff« ist weit entfernt von den opernhaft überzogenen Gewaltchoreographien im Super-Breitwandformat der italienischen Variante des amerikanischsten aller Genres.
Das heißt nicht, dass solche Filme im Programm gefehlt hätten. Im Gegenteil: Man konnte das Gefühl haben, das Programm wäre extra auf den diesjährigen Jurypräsidenten abgestimmt worden. In Mitternachtsvorführungen wurden zwei Klassiker vom Italo-Western-Virtuosen Sergio Corbucci vorgeführt, die Tarantino sich nicht nehmen ließ, persönlich mit dem üblichen Enthusiasmus eines Fans vorzustellen. Außerhalb des Wettbewerbs lief »Machete«, der neue Film von seinem Freund Robert Rodriguez, ein wunderbar überdreht-komischer Mexploitation-Film mit erstaunlich offener politischer Botschaft. Auch das von Tarantino geliebte asiatische Genre-Kino war dieses Jahr sehr stark vertreten mit neuen Werken von John Woo, der einen Ehrenlöwen erhielt, Andrew Lau, Tsui Hark und Takashi Miike, der gleich zwei neue tolle Filme mitbrachte.
Venedig hat mal wieder bewiesen, dass es das lauteste, blutigste, aber auch das inspirierendste und experimentierfreudigste der drei großen europäischen Filmfestivals ist. Letzteres Attribut verdankt die Auswahl vor allem der neu konzipierten Orizzonti-Sektion, die dieses Jahr besonders mit essayistischen Filmen etwa von José Luis Guerín (»Guest«) und einem Gemeinschaftswerk von Noel Burch und Allen Sekula (»The Forgotten Space«) überzeugte. Auch wenn Venedig von der Größe her nicht mit Cannes und Berlin mithalten kann, hat Festivaldirektor Marco Müller erneut ein überzeugendes Programm zusammengestellt, auf das die Konkurrenten, die dieses Jahr schwach aufgestellt waren, mit Neid blicken können.
Umso mehr muss man sich Sorgen um die Zukunft des Festivals machen. Auch wenn es offiziell nicht bestätigt wird: Müller wird wohl nächstes Jahr mit dem Auslaufen seines Vertrags aufhören, um wieder in seinen Job als Filmproduzent zurückzukehren. Sein Steckenpferd, der neue Festivalpalast, wird dann noch nicht fertiggestellt sein. Asbestfunde im Boden verzögern die Bauarbeiten. Mit dem neuen Gebäude soll der Lido ganzjährig zu einem internationalen Kongress-Hotspot umgewandelt werden. Der angestaubt-morbide Charme des Festivals wird dann dahin sein. Geschlossen war dieses Jahr schon das 1902 erbaute Hotel des Bains, in dem Visconti Thomas Manns »Tod in Venedig« verfilmte und in dem über die Jahrzehnte unzählige Filmstars während des Festivals residierten – trotz häufig defekter Aufzüge und Klimaanlagen: Es wird umgebaut in eine Luxus-Residenz mit Kauf-Apartments zum Preis von bis zu 16.000 Euro pro Quadratmeter. Damit hat die Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica bereits ein Stück ihrer Seele verloren.



Die Preisträger:
Goldener Löwe für den besten Film: Sofia Coppola für »Somewhere«
Silberner Löwe für die beste Regie : Álex de la Iglesia für »Balada triste de trompeta«
Bestes Drehbuch: Álex de la Iglesia für »Balada triste de trompeta«
Beste Schauspielerin: Ariane Labed (»Attenberg«).
Bester Schauspieler: Vincent Gallo (»Essential Killing«)
Sonderpreis der Jury: Jerzy Skolimowski für »Essential Killing«
Spezial-Löwe für das Gesamtwerk: Monte Hellman