Foto: Martin Claßen und Arno Jansen, Köln

Die Enthüllung

Was hat ein indonesisches Totenritual eigentlich mit uns zu tun? Warum hält man hierzulande Afrika immer noch für einen ländlichen Kontinent, obwohl die dortigen Megacities weit größer sind als europäische Hauptstädte? Mit der Eröffnung des neuen Museumszentrums am Neumarkt werden viele Fragen endlich beantwortet – und ganz neue gestellt, die Köln eine spannende Debatte bescheren.

Sieben Jahre lang sah man ihn größer, nicht unbedingt einladender werden: Ein riesiger Kasten mit einer Fassade aus vielen Quadratmetern dunklem Klinker, unterbrochen von vertikalen Glasfugen, der in Köln nicht ohne weiteres heimisch wirkt. Streng, eher nordisch hat das Architekturbüro Schneider & Sendelbach aus Hannover ihn entworfen, verhalten modern, Backstein ohne Gotik, aber mit Willen zur großen Geste. So steht das neue Museumszentrums jetzt an der vierspurig-brausenden Cäcilienstraße, zwischen dem 60er-Jahre-Bau der VHS sowie dem architektonisch unverständlichen Ärzteturm rechts und der mittelalterlichen Cäcilienkirche links. Noch weiter links dann Kölns neuester Büroflächen-Investoren-Ramsch, und aus der Ferne winkt Claes Oldenburgs lustige Rieseneinstüte vom Neumarkt herüber.

Nein, für eine städtebaulich überzeugende Gesamtlösung an diesem zentralen Ort – immerhin wurden für das Neubauprojekt Kunsthalle, Kunstverein und Haubrich-Forum abgerissen – fehlte Stadtplanern, Politik und Architekten der Mut. Das ist das weinende Auge. Aber schon beim Betreten des turmhohen, überraschend lichtdurchfluteten Foyers mit dem spektakulären Reisspeicher ist klar: Schneider & Sendelbach hätten es weit schlechter machen können. Beim Rundgang lenken nur noch die Pentagon-tauglichen Sicherheitsschleusen mit den von Geisterhand in Gestalt eines einschüchternden Hightech-Mechanismus bewegten, tonnenschweren Türen vom eigentlichen Geschehen ab (Museumsbauten von heute sind sicherheitstechnische Kunstwerke, denen sich die Kunst auch mal unterzuordnen hat) – Nebensache.

Über 15 Jahre Planung und Planlosigkeit hatte man fast vergessen, worum es bei diesem verflixten Bau ursprünglich mal ging: Für das 1906 am Ubierring eröffnete Völkerkundemuseum, dessen Sammlung auf heute rund 65.000 Objekte, sagenhafte 100.000 ethnografische Fotografien sowie 35.000 Bände Fachliteratur gewachsen ist, angemessene Räume und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Angemessen, denn am Ubierring sorgten Enge, Hochwasserschäden und fehlende Klimatisierung für katastrophale Zustände. Angemessen aber auch einem völlig neuen Konzept: Heute ist die Idee obsolet, exotische oder gleich »primitive« Völker – die Hochkultur sind wir! – anhand ihrer seltsamen Sitten und Bräuche vorzuführen und stolz Trophäen kolonialer Beutezüge zu präsentieren. Völkerkundemuseen sind Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Was können sie heute sein? Seit den 80er Jahren haben sich Kuratoren und Wissenschaftler des Rautenstrauch-Joest-Museums damit auseinandergesetzt, zunächst in Aufsehen erregenden Sonderausstellungen (schon 1981 »Rausch und Realität«), dann im Hinblick auf einen Neubau. Ihre Lösung war, die geltende Ordnung komplett über den Haufen zu werfen.

»Der Mensch in seinen Welten« ist der neue Ausstellungsparcour benannt, multiperspektivisch, didaktisch, lebensnah wie schon das filmische »Begrüßungsritual«: Auf einer Projektionswand vollführen Menschen vielerlei Hautfarben, Sprachen und Styles die Begrüßungsformeln verschiedener Weltreligionen, von Indien bis Ghana, und was ist schon der grobmotorische Handschlag im Vergleich zum »Nasenkuss«. Nehmen wir vorweg, dass schließlich am Ausgang beim Abschiedsritual als Clou die Auflösung folgen wird. Die gleichen Personen nennen dort auch Namen und Wohnort – es sind alles Kölner. Erwischt. Blickwechsel, darum geht es. Um Sensibilisierung, auch um das Ende bequemer Gewohnheiten. Zu ihnen gehört auch der gemütliche Multikulti-One-World-Konsens, statt den europäischen Blick wegzuleugnen, wird er thematisiert.
Die neue Ordnung zielt auf den »Kulturvergleich«. Wurden die Exponate bisher, und so tun es weltweit immer noch fast alle ethnologischen Museen, nach Ländern und Kontinenten sortiert, so dass der Besucher durch die Abteilung »Afrika« schlendern konnte (Aha, so leben die) oder in »Nordamerika« Indianer-Tipis begegnete, so gliedert sich der neue Rundgang in Themenkomplexe. Ausgehend von Erfahrungen, Bedürfnissen und Herausforderungen, die alle Menschen bewegen, wie das existenzielle Thema »Wohnen«, werden die unterschiedlichen Lebensformen und Kulturtechniken vorgestellt, die Menschen entwickelt haben, um ihr Leben praktisch und sinnhaft zu organisieren. Über drei Stockwerke mit 3.600 Quadratmetern verläuft die Dramaturgie in neun Kapiteln, mit teilweise etwas unhandlichen Namen wie »Begegnung und Aneignung – Grenzüberschreitungen«, »Ansichtssachen?! – Kunst« oder »Der Körper als Bühne – Kleidung & Schmuck«. Die Weltkarte im Hinterkopf bleibt indes hilfreich: Man bewegt sich so frei und rasant um den Globus wie die Globalisierungsprozesse, und wie bei diesen kann gelegentlich Schwindel auftreten.

Dagegen hilft nur: Zeit. Zeit, seine eigenen Entdeckungen zu machen. Es gibt Räume der Stille und Konzentration, wie bei den Altären und Kultgegenständen der verschiedenen Religionen. Auch die forschende Versenkung des Studierzimmers, auf der Etappe »Die Welt in der Vitrine«, wo die eigene Forschungs- und Sammlungstätigkeit anhand sämtlicher, sauber inventarisierter Speere und Kalkspatel einer Region in Papua-Neuguinea dargestellt wird. Ebenso im Salon Europa beim Erkunden des multimedialen »Globalisierungstisch«. Oder gleicht der eher dem Internet, wo man surfend hier und dort hängen bleibt, oder eben nicht? Der weltweite Siegeszug des HipHop ist zu verfolgen; ebenso, ökonomisch, ökologisch und sozialkritisch, der Produktionsweg eines T-Shirts von der Baumwollplantage bis in den Kölner Shop. Eher von selbst erklärt sich, dass man sehr anschaulich – aber aufgeklärt! – in den Fußstapfen der Väter des Rautenstrauch-Joest-Museum in die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts reisen kann: Den frühen Begegnungen mit außereuropäischen Kulturen von Eugen Rautenstrauch, Wilhelm Joest und Max von Oppenheim ist das erste Ausstellungskapitel gewidmet.

Wir springen ins zweite. Und stehen vor einem Kubus, halt, nicht links liegen lassen! Der »weiße Denkraum« ist begehbar, drinnen wartet ein modernes Reinigungsritual für den westeuropäischen Besucher und seinen »verstellten Blick«. Die Box ist gewissermaßen die ideologische Zentrale des postkolonialen Aufklärungsprogramms, eine Art Bad Bank des Museums, wo die populärsten Klischees und Vorurteile über Afrika und den typischen Schwarzen deponiert wurden. Auch dazu fanden sich treffliche Original-Exponate in der Sammlung, amüsant bis beklemmend wie der Kolonialherren dienende »Nick-Neger« oder Bastelsets für Hüttendörfer samt Tieren, Kriegern und Kannibalen-Feuerstelle. Popkulturelle Zitate korrigieren den erlösenden Gedanken, es ginge um Vorgestern: Das Schlüsselbild Afrikas, das Armut darstellen soll, sind immer noch schmutzige Barfüße im Sand; in aktueller Werbung und Popkultur prickelt das Spiel mit dem Positiv-Klischee »schwarzer Sex«. Rassismus hat drastische und subtile Formen. Das Fremde ist immer das Andere? Die Wilden und der Kannibalismus, dieser zivilisatorische Tabubruch, wer dabei immer schön in die Ferne gedeutet hat, war vielleicht nur schlecht informiert. Bis ins 20. Jahrhundert wurde in deutschen Apotheken feingemahlenes »Mumienpulver« verkauft.

Ist das nicht alles auch furchtbar politisch korrekt? Wäre es, ginge es nur darum, statt »Indianer« indigene Bevölkerung zu sagen. Doch die Erforschung zielt tiefer, und geradezu psychoanalytisch, auf das persönliche und kollektive Unbewusste, konfrontiert es mit Fakten, anderen Erzählungen und Erfahrungen. Die kulturvergleichende Relativierung birgt tatsächlich die Gefahr, dass am Ende alles so relativ ist, dass alles und nichts Bedeutung hat. Doch die Exponate und Erzählungen sind konkret genug, zu faszinieren. Sie eröffnen Alternativen zur westlichen Lebensweise, vergrößern den Denkraum, weiten den Horizont. Umgekehrt kann »unsere« Entdeckung des vielfachen »Fremden«, das näher rückt, Achtung erlangt, den Blick schärfen für die Nachtseite der Globalisierung – die kulturelle Gleichmacherei, die Lebensformen und Gestaltungsarten nivelliert.

Es ist eine Gratwanderung. Irgendwann regt sich doch Widerwillen, dauernd kritisch die eigene Position zu hinterfragen und sich selber von der Metaebene aus zu beobachten, sondern man will erleben, dass ein Objekt zu einem spricht. Man geht weiter, und es passiert. Man steht lange vor einer Vitrine mit einer erschütternd schönen Götterfigur, staunt über einen bizarren Krieger-Bauchschutz aus Südsee-Rochenhaut, über die Pracht des indonesischen Lotus-Throns mit passendem Stiersarkophag, der beim Totenritual zusammen mit dem Leichnam in Flammen aufgeht. Und sinniert, ob diese Vorstellung möglicherweise versöhnlicher ist als die Aussicht auf einen Eichensarg. Das ist die Kunst dieser Ausstellung, aufs Ganze gesehen gelingt die Balance – aufzuklären, genug Freiraum zu lassen, sinnlich zu sein.

Großen Anteil daran haben die Inszenierungen des Stuttgarter Atelier Brückner, dem das Gestaltungskonzept übertragen wurde. Das ist die zweite Überraschung in dem neuen Haus: Zu erleben, was heute alles möglich ist, wenn ein Museum von vornherein unter dem Aspekt moderner Museumsdidaktik gedacht wird. So ist es jetzt beides, Lehranstalt mit beträchlicher Diskurshöhe und globaler Abenteuerspielplatz. Bühnenbildartige Rauminstallationen, Kinderstationen, Multimedia, neuartige Vitrinen mit Touchscreens für Bildwechsel, alles ist hightech, durchdacht und liebevoll aufbereitet. Mancher mag es überinszeniert finden, einiges ist originell ohne Gewinn, und die längst floskelhafte Rede davon, den Besucher »abzuholen«, klingt immer ein wenig bemutternd nach Kita-Feierabend. Über das neue Rautenstrauch-Joest-Museum kann man streiten. Und genau das wäre sein größter Erfolg – die Diskussion.

Ein Ereignis ist die Eröffnung dieses Hauses, weil sie Köln, nach der Dauerdiskussion um Kosten und Strukturen, wieder eine Debatte über die Inhalte von Kultur beschert. In diesem Fall über die »Kulturen der Welt«, wie das Museum jetzt im Untertitel heißt, ihr Zusammenleben, ihre Konflikte, ihre Kunst, ihren Alltag. Was wäre ein besserer Ort dafür als die Einwandererstadt Köln. Käme dazu noch – wenn die Politik Ernst macht mit der im Rat unter Vorbehalt genehmigten Million – die »Akademie der Künste der Welt«, hätte Köln gewonnen, wovon es so gerne fantasiert: einen Standortvorteil. Einen geistigen Standortvorteil, und einen besseren gibt es ja wohl nicht.

Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt, Cäcilienstr. 29-33,
Di-So 10-18, Do 10-20 Uhr, www.museenkoeln.de