Schöne Grüße aus dem Klassikergrab: Böll zu Lebzeiten

Fertig mit dem Ramsch

Die letzten Bände der »Kölner Ausgabe«

von Heinrich Böll sind erschienen

In einem Gedicht von Wolf Biermann spaziert Bertolt Brecht »drei Jahre nach seinem Tode« die »Friedrichstraße entlang, zu seinem Theater«. Und begegnet, wie der Zufall es will, den »Fleißigen vom Brechtarchiv«. »Was, dachte er, seid ihr immer noch nicht fertig mit dem Ramsch? Und er lächelte unverschämt-bescheiden und war zufrieden.«

Was wohl Heinrich Böll, 25 Jahre nach seinem Tod, zu den Fleißigen vom Böll-Archiv sagen würde, wenn er sie zur Mittagszeit etwa vor der Stadtbibliothek träfe? Darüber lässt sich nur spekulieren. Aber fest steht eins: Sie sind fertig mit dem Ramsch! Dieser Tage kommen die letzten drei von 27 (ja: siebenundzwanzig) dicken roten Leinenbänden der »Kölner Ausgabe« in die Buchläden, verlegt bei Kiepenheuer & Witsch, Bölls Hausverlag seit 1953. Ein internationales Team von Böll-Forschern, dirigiert von Ralf Schnell, bis vor kurzem Germanistikprofessor und Rektor der Universität Siegen, und koordiniert von Jochen Schubert vom Böll-Archiv, hat das Projekt fast fristgerecht abgeschlossen, trotz Archiv-Einsturz. Das Gesamtwerk kostet um die 800 Euro. Ein Weihnachtsgeschenk der besonderen Art.

Erinnerungsarbeiter und Chronist der rheinischen Republik

Wozu solch eine Ausgabe? Sind Bölls Romane und Erzählungen nicht in jeder Stadt- und Pfarrbibliothek greifbar? In Taschenbüchern und Schulausgaben millionenfach verbreitet? Ja – und dennoch: Jetzt ist dieser so vertraute Autor neu zu entdecken, der repräsentative Erzähler aus Kriegs- und Nachkriegszeiten, der Erinnerungsarbeiter und Chronist der rheinischen Republik, der erbitterte und doch so menschenfreundliche Kritiker all ihrer (und unserer) Verlogen- und Vergessenheiten, der hassliebend an seine Heimatstadt gebundene Ehrenbürger.

Denn noch nie war das Werk des Geschichtenerzählers, des Kritikers, des öffentlichen Redners und Gesprächspartners Böll in dieser Vielseitigkeit und Vollständigkeit greifbar. Die 27 Bände sind, vor allem dank ihrer Informationen und Erläuterungen zu den einzelnen Texten, ein konkurrenzloser Informationsspeicher, ein Wissensschatz in punkto »Böll und seine/unsere Zeit«. Manches, vor allem aus den ganz frühen Jahren, was damals nicht als druckreif galt, ist jetzt erst zu lesen und zeichnet ein sehr viel genaueres Bild vom Weg des jungen Soldaten und Kriegsheimkehrers zur Literatur.

Zuständig für alle Schweinereien dieses Landes

Die Erzählwerke und die literatur- und zeitkritischen Aufsätze oder Reden stehen hier chronologisch geordnet nebeneinander. Und nimmt man noch die zahlreichen Interviews in den nun erschienenen letzten drei Bänden hinzu, dann ergibt sich daraus ein plastisches Bild des Autors und vor allem des Bürgers Böll, der immer mehr zur öffentlichen Figur wurde, zum »armen Heinrich«, der zuständig schien »für alle Schweinereien dieses Landes«, wie es sein Kollege Hans-Magnus Enzensberger ausdrückte.

Als er 1985 starb, war Trauer weit über den Literaturbetrieb hinaus zu spüren. Aber dann wurde es sehr bald still. Bölls Rolle als kritischer Chronist und widerborstiger Querulant im Spannungsfeld von Geschichte, Politik und Literatur wurde nicht mehr besetzt. Jetzt gab es Amnesty und Greenpeace, sagt Enzensberger.

Unangenehmes Erwachen im Klassikergrab

Dass Böll vergessen zu werden droht, ist vielleicht übertrieben. Aber die schnell wachsende Distanz zu ihm und zu seiner Lite­ratur ist wohl die Kehrseite der »Gebundenheit« an Herkunft und Gegenwart, die er so sehr betonte und aus der seine Werke gewachsen sind. Die »Kölner Ausgabe« belegt noch einmal Bölls Stellung in der Kultur der alten Bundesrepublik, ist aber gewiss keine Garantie für die Fortdauer seines Ruhms oder ein Beleg für aktuelles Interesse an seinen Werken. Oft werden solche Ausgaben ja als »Klassikergrab« verspottet. Einem wie Böll, dessen Ideal doch der »permanent umstrittene Klassiker« war, müsste dies alles andere als angenehm sein.

Vor acht Jahren, im November 2002, wurde die »Kölner Ausgabe« im Wallraf-Richartz-Museum vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder höchstselbst vorgestellt. Als am 18. November die Bände 25, 26 und 27 erschienen, fand die Abschlussfeier im Berliner Sitz der Heinrich Böll-Stiftung statt. Die Bundeskanzlerin ließ sich vom Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten vertreten.