Was bleibt von Sarrazin?

Es ist nicht lange her, dass für einen Autor mit angeblich bahnbrechenden Einsichten in die Themen Integration, Armut und Demografie vehement Meinungsfreiheit gefordert wurde. Den "ausgegrenzten" Autor Thilo Sarrazin sah man allerdings schon in zahllosen Talkshows, er durfte in Artikeln und Interviews seinen Kritikern antworten und lässt sich aktuell in etlichen Homestorys porträtieren. Nava Ebrahimi erzählt aus persönlicher Sicht, wie die Debatte auf sie wirkte.

In der Grundschule hatte ich eine Freundin, deren Wellensittich Adenauer hieß. Diese Freundin lebte in einem großen alten Haus ohne Fernseher. An den verputzten Wänden hingen Bilder, auf denen ich nichts erkannte, obwohl ich viel Zeit hatte, sie mir anzusehen, während meine Freundin zum Klavierunterricht gezerrt wurde. Die Mutter, Adelheid, nannte mich »meine kleine Perserin« und lobte mich für meine guten Noten, die sie sich so sehr für ihre eigene Tochter wünschte. Oft strich sie mir dabei über das dunkle Haar.

Adelheid hat mich konditioniert. Hätte ich in der letzten Reihe gesessen und Vieren geschrieben – vermutlich hätte ich die Stadtvilla nie von innen gesehen. Mit dem Bewusstsein, ich könne dazugehören, wenn nur die Leistung stimmt, ging ich durch Schule, Studium und in den Beruf. Auf meinem Weg war ich stets die einzige mit einem fremd klingen­den Namen: auf der katholischen Grundschule, auf dem protestantischen Gymnasium, auf der Journalistenschule, in den Redaktionen. Meist kam es mir zugute, dass ich auffiel. Integration war für mich ein Thema von vielen, so wie Gebäudeeffizienz oder Mindestlöhne; wichtig, betrifft mich aber nicht persönlich.

»Und wo kommst Du eigentlich her?«

Wenn mich im Ausland jemand fragt, woher ich komme, sage ich Deutschland. Gesprächspartner aus den USA schlucken das sofort. Wenn mir in Deutschland jemand dieselbe Frage stellt, sage ich Köln. Manchmal höre ich dann »Nein, ich meine ursprünglich« oder »Und wo kommst Du eigentlich her?«, manchmal bleibt es aber auch bei Köln. In den vergangenen Jahren immer häufiger, und ich wertete das als positives Zeichen. Jemand wie ich könne sich also das Recht herausnehmen, zu behaupten, er sei aus Deutschland, ohne dass Einschränkungen folgen mussten. Ich dachte zeitweise, jetzt verwischen die Grenzen. Wo man geboren ist oder wo die Eltern herkommen zählt nicht mehr, jeder kann in dieser Gesellschaft aufgehen. In einer Diskussion mit Freunden vertrat ich den Standpunkt, dass sich ein »blutsdeutscher« Arbeiter (zumindest in Westdeutschland) heute in den meisten Fällen eher mit dem türkischstämmigen Kollegen solidarisierte, anstatt »Ausländer raus« zu skandieren.

Furcht vor grammatikalisch falschen Sätzen

Daran glaube ich inzwischen nicht mehr. Thilo Sarrazin, die Debatte um ihn und sein Buch, weckten mich aus diesen Träumereien. Mehr noch, nachdem ich die erste Talkshow zum Thema gesehen hatte, stand ich plötzlich mittendrin. Mittendrin in der bunten Menge der Muslime, obwohl ich nicht gläubig bin und Moscheen nur im Ausland und mit Fotoapparat betrete. Schwankte ich vorher, ob ich für oder gegen ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen sein sollte, brachte mich nun jeder gegen sich auf, der gegen Verschleierung wetterte. Sah ich Talkshows, verhielt ich mich uneingeschränkt solidarisch mit der Muslimin oder dem Muslim, deren bzw. dessen Aufgabe es war, Sarrazin platt zu machen. Auch wenn es mir nicht immer leicht fiel: Ich hielt zum Migranten. Und wie ein Fußballfan ein Gegentor fürchtete, fürchtete ich, die Migranten-Kollegen könnten grammatikalisch falsche Sätze bilden. Als hinge mein Schicksal an ihrem.

Staatstreuer Kauz,
aggressiv
melancholisch
Ein halbes Jahr nach der spektakulären Veröffent­lichung von "Deutschland schafft sich ab" ist eine Frage immer noch nicht beantwortet: was fasziniert eigentlich an Biedermann Sarrazin? Von Felix Klopotek

Jetzt also die zweite Runde: Sarrazin persönlich. Bei Sarrazin zu Hause (Besucher müssen sich die Schuhe ausziehen). Mit Sarrazin über die Buchmesse schlendern (schon der Vater versuchte sich als Autor). Sarrazin im ein­vernehmlichen Plausch mit dem zwanghaft lustigen Provokateur Henryk M. Broder. Sarrazin porträtiert vom Schöngeist Alexander Kluge. Sarrazin, der Bücherwurm (liest 25 Bücher pro Jahr, trägt jeden gelesenen Titel in eine Excel-Tabelle ein und bewertet ihn mit einer Schulnote). Sarrazin, der Volksnahe (ver­zichtet auf einen persönlichen Fahrdienst). Sarrazin läuft über einen Weihnachtsmarkt, zieht sich ein Nikolausmützlein über und setzt sich aufs Kinderkarussell. Sarrazin menschlich gesehen.
Das ist der Mann, für den seine Ver­teidiger noch vor etwas weniger als einem halben Jahr Meinungsfreiheit forderten. In der Zwischenzeit hat sein Traktat »Deutschland schafft sich ab« Verkaufszahlen weit jenseits der Millionengrenze erzielt, er ist Stargast in ungezählten Talkshows, die FAZ brachte seinen persönlichen Jahresrückblick auf der Aufmacherseite des Feuilletons. Das heißt es also, ausgegrenzt, ja verleumdet zu werden. Natürlich war diese Kampagne für Meinungsfreiheit Heuchelei, es ging dabei nicht um die Meinung an sich, sondern um ihren konkreten Inhalt – Meinungsfreiheit für Sarrazin kann man getrost mit Diskurshoheit oder Freifahrtschein übersetzen.
Was fasziniert an Sarrazin? Gute Frage, die Beantwortung fällt gar nicht so leicht. Deshalb nicht, weil es eigentlich ganz nahe­liegend ist.
An seinem Buch kann es jedenfalls nicht liegen. Das Lektorat hat ihm zwar einen halbwegs flotten Stil verpasst, aber intellektuell ist es doch arg dürftig. Sarrazin scheint allein das Anhäufen von Fußnoten schon für Wissenschaft zu halten. Eine kritische Quellen­diskussion führt er nicht. Andererseits ist das ausschweifende Buch weit von den schmissigen Untergangs- und Vaterlands­be­schwö­run­gen der großen, alten Ekelpakete der deutschen Reak­tion (Jünger, Schmitt, Spengler) entfernt. Sarrazin ist ja bekennender Demokrat.
Inhaltlich bringt es erst recht nichts Neues. Gehen wir seine Topoi durch: Die Opfer von Sozial­demokratie und Neoliberalismus, von Hartz-Gesetzen und Armuts­programmen werden zu Ver­antwortlichen ihrer eigenen ­La­ge erklärt. Dazu werden kul­tu­ralis­tische und zunehmend biologis­tische Rechtfertigungsmuster herangezogen. Neben diesem Ressentiment gegen die Prekarisierten gibt es noch eine andere, für das Buch zentrale Ideologielinie: Einwanderer nei­gen dazu, Parallelgesellschaften zu bilden und integrieren sich nicht. Besonders trifft das auf Menschen aus islamisch geprägten Ländern zu. Sie grenzen sich selber aus, nutzen die Chancen, die ihnen die offene Gesellschaft bietet, – ganz bewusst – nicht und gesellen sich so zur autochthonen Unterschicht. Beide Gruppen – die Prekarisierten und die muslimischen Einwanderer – nehmen gegenüber dem Staat eine For­derungshaltung ein: Sie zeugen fleißig Kinder, weil das die Transferleis­tungen erhöht, gleichzeitig senken sie dadurch das Intelligenzniveau der Nation.
All das konnte man in den letzten Jahren nicht nur regierungsoffiziellen Debatten entnehmen, es ist nach wie vor Leitlinie der Politik. Sarrazin produziert nicht das Feindbild des Moslems, er bedient es. Dementsprechend sind die Einwände, die er aus Politik und Medien erfahren hat, in der Regel auch gar nicht grundsätzlicher Natur, können es auch gar nicht sein. Aber dazu später.
Was fasziniert also an Sarrazin? Jeder hat schon mal seinen Sarrazin erlebt: Irgendeinen Beamten, einen Lehrer vielleicht, einen Kollegen im Büro – komische Käuze, fleißig, intelligent, aber doch von einer Wut und Leidenschaft besessen, die sie über die da oben, über inkompetente Chefs, unverschämte Kun­den, dumme Schü­ler schimpfen lassen. Sie sind, wie gesagt, nicht dumm, sie bieten eine Generalerklärung an, sie wissen genau, warum etwas so und nicht anders kommen musste. Und gleich­zeitig wissen wir: Diese Käuze und Schimpflinge werden nie etwas ändern, dazu sind sie zu verschroben, zu duckmäuserisch, zu selbstgefällig, zu loyal. Sarrazin ist dieser zornige Beamte, ein aggressiv melancholi­scher Mensch mitten aus unserem Alltag. Man bewundert ihn für den Mut zu toben und ist beruhigt, dass er seine Arbeit weiter zuverlässig erledigen wird. Sarrazin bringt das Paradox fertig, sich unabhängig gegenüber einer Regie­rungspolitik und der öffentlich herr­schen­den Meinung zu verhalten, der er doch aufs Haar entspricht. Ein konformistischer Rebell. Ein mutiger Außenseiter – aber »einer von uns«.
Dass die große Politik sich so vehement von Sarrazin distanziert, findet – neben gewissen außenpolitischen Rücksichtnahmen (deutscher Nationalismus wird weltweit halt immer noch misstrauischer beäugt als spanischer oder australischer) – vor allem seinen Grund in einem gewissen Realismus: Der Staat kommt ganz gut zurecht mit seiner Unterschicht, die kaum rebelliert und sich offenbar beliebig stigmatisieren lässt; er fährt auch gut mit Moslems, deren Vertreter – offizielle wie selbsternannte – seit Jahr und Tag nicht müde werden, Bekenntnisse zu Deutschland und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung abzuliefern. Und für alle, die sich nicht fügen, aus welchen Gründen auch immer, gibt es einen annähernd perfekt vernetzten Polizei- und Geheimdienstapparat.
Daran gemessen ist Sarrazin Idealist, überall wittert er den Schaden für sein hehres Bild einer prosperierenden deutschen Nation. Wo der Staat das selbstgeschaffene Elend verwaltet und reguliert, ist es für Sarrazin ein Skandal – den er den Ausgegrenzten anlastet. Wo Westerwelle & Co. sich über sinkende Arbeitslosenzahlen freuen, denkt er schon an den nächsten Niedergang. Dabei zeitigen sein Traktat, sein ebenso bieder korrektes wie selbstgefällig arrogantes Gebaren in Talkshows (seine Auftritte sind genau deswegen so beliebt!), seine ausgebuchten Lesetouren einen direkten Effekt auf die Politik. Das, was dort schon Programm ist, kann nun dank ­Sarrazin ungenierter umgesetzt werden.
Die erste Zuspitzung leistete, wie so oft, die Bild-Zeitung mit einem »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«-Titelblatt: »Wer Arbeit ablehnt, verdient keine Stütze!«, »Auf den Schulhöfen muss Deutsch gesprochen werden«, »Zu viele junge Ausländer sind kriminell!«. So dröhnten einem Anfang September die Springer-Parolen entgegen – »Bild kämpft für Meinungsfreiheit«. Nach Sarrazin wird wieder klar, was Integration eigentlich bedeutet: Wir legen die Messlatte fest, über die ihr springen müsst, und sie wird immer ein wenig höher gelegt. Immerhin ist Sarrazin so ehrlich auszusprechen, dass Integration kein gemeinschaftlicher, wechselseitiger, offener Pro­­zess ist. Sondern die Akzeptanz von Spielregeln, auf die man – als Unterschichtler, Ausländer und Moslem – keinen Einfluss hat, gerade das würde die Demokratie zersetzen!
Das Perfide an der Debatte ist, dass fast alle, die zu Wort kommen, Sarrazins Prämissen teilen – wohl oder übel. So betont zum Beispiel die Autorin und Islamkennerin Hilal Sezgin in einem Beitrag für die Zeit geradezu übertrieben ihre Verbundenheit mit ihrer ­Geburtsstadt Frankfurt und der deutschen humanistischen Kultur.
Und diejenigen, die gegen Sarrazin vor allem das Freiheitliche in der Demokratie verteidigen, das gemeinsame Aushandeln von Werten und Perspektiven, übersehen, dass Sarrazin überhaupt kein Problem damit hat: Bloß gibt es seiner Meinung nach immer weniger Deutsche, die das anstrengende Spiel der demokratischen Verhandlungsgesellschaft überhaupt verstehen – und fordert, zum Schutz der Demokratie vor sich selbst, strikte Regeln der Anpassung und der »Integration«, der Einordnung.
Sarrazins Kritik an der liberalen Zivilgesellschaft zielt nicht auf das »liberale« ab, sondern darauf, dass ihre Protagonisten nicht wissen wollen, wie gefährdet die Kultur der Freiheit ist. An diesem Punkt setzt seine Raserei ein. Sarrazin demonstriert eigentlich treffend, dass jede staatlich demokratische Politik den Moment des Ausnahmezustandes in sich trägt – weil etwa der Erhalt der Meinungsfreiheit erfordert, dass sie für bestimmte Gruppen oder besondere historische Situationen eben nicht gilt. Die Demokratie liegt Sarrazin ganz besonders am Herzen. So sehr, dass sie nur für die entsprechend tauglichen (gebildeten, leis­tungsbewussten etc.?pp.) Bürger das politische Feld sein soll.
Er geht prinzipiell immer als Sieger aus der Debatte hervor – solange nicht das, was sein Buch beschönigend widerspiegelt, offen thematisiert und angegriffen wird: Zum Beispiel das Ruinieren von Löhnen und Arbeitsverhältnissen, die nicht nur das »abgehängte Prekariat«, sondern auch zahllose Working Poor hinterlässt. Oder ein Schulsys­tem, das von vornherein auf die Sortierung der Kids nach den Erfordernissen der freien Marktwirtschaft ausgerichtet ist. Man kann mal versuchen, das zur Sprache zu bringen, weit wird man es in der Debatte nicht bringen. Ist doch diese Kritik ganz und gar »undemokratisch« und »fundamentalistisch«.
Wirklich weit auseinander liegen die Positionen zwischen dem politischen »Mainstream« und dem »Einzelgänger« freilich nicht. Weswegen Spitzenpolitiker darauf verzichten, die Kritik an Sarrazin (deren Tenor ohnehin lautete: das Buch ist in Teilen ärgerlich, die Debatte über Integration, Demographie und Unterschicht aber richtig) so weit zu treiben, ihn zur Persona Non Grata zu stempeln. Sarrazin wiederum gibt den Privatmann und zeigt sich, ganz braver Bürger, frei von politischen Ambitionen. Dass in den Medien Sarrazin in dieser Rolle zu bewundern ist, ist sicher auch eine Verniedlichung, eine Verhausschweinung. Ein schlimmer Finger ist dieser gediegene Westberliner bestimmt nicht, eine Protestpartei wird er nicht anführen, nicht einmal beratend ihr zur Seite stehen. Diese vordergründig harmlosen Storys zeigen jedoch, dass man Sarrazin unbedingt halten will. Er verschwindet nicht aus der Diskussion, bleibt präsent. Wenn er gerade nicht mit einer neuen Provokation glänzt – meine Güte, dann soll er wenigstens einen Schwank aus seinem Leben zum Besten geben. Nach Sarrazin heißt immer schon: vor dem nächsten Sarrazin.

 

Talkshow-Gedanken
Warum ich Sarrazin ärgerlich finde, aber keine Angst vor ihm habe. Von Bernd Wilberg

Ich finde Gedanken reizvoll, die mein Weltbild in Frage stellen. So war es bei zwei der interessantesten Debatten der letzten ­Jahre. Sie entzündeten sich 1993 an Botho Strauß’ kulturkriti­schem Essay »An­schwel­len­der Bocksge­sang« und 1999 an Peter Sloterdijks technoiden »Regeln für den Menschenpark«. Es sind ungehö­rige Texte, an denen sich sehr viel kritisieren lässt – und doch konnte man in der Auseinandersetzung mit ihnen gedanklich reifen. Nicht zuletzt, weil keiner der dort formulierten Gedanken auf das Fernsehen oder die Bild-Zeitung zugeschnitten war. Ganz anders verhält es sich bei Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab«. Sarrazin denkt Talkshow-Gedanken. Weniger noch: Er bringt Ressentiments in Stellung.
In meinem Freundeskreis hat trotzdem niemand von Sarrazin gesprochen. Selbst die nicht, die sich von Sarrazin hätten attackiert fühlen können. Sein Buch hat auch niemand gelesen. Sarrazin war ein Boulevard-Phänomen – so diskussionswürdig wie Bohlens verbale Ausraster. Wir kamen wohl unausgesprochen darin überein: Die Sarrazin-Debatte ist eine mediale Krawall-Inszenierung. Würde man Sar­­razin in einer Kneipe palavern hören, setzte man sich weg. Doch leider ist es so: Wenn Prominente im Fernsehen irgendeinen Quatsch verzapfen, ist es ein Ereignis, so dass niemand mehr glaubt, dies ignorieren zu können. Thilo Sarrazin ist der Nachfolger Eva Hermanns. 
Die Talkshows zu Sarrazins The­sen – das Buch mag ein Verkaufsschlager sein, gelesen hat es kaum jemand – waren mit Typen aus einer bizarren Commedia dell’arte besetzt:  Sarrazin als intellektuell überforderter Querulant, die Experten als umständliche Schlauberger, dazu attraktive und erfolgreiche TV-Prominente, die mit ihrem »Migrationshintergrund« kokettierten und sich in betörend fehlerfreiem Deutsch gehörig aufregten. Ich bemerkte, dass ich mich mehr über diese Inszenierungen aufregte, als über Sarrazins Blödsinn. Denn niemand der gesellschaftlich Deklassierten, also derjenigen, gegen die Sarrazin so heftig polemisiert hatte, kam in den Talkshows zu Wort.
So sehr ich aber Sarrazin vermeiden wollte – er war nun gewissermaßen aus dem Fernseher in mein Leben getreten: Eine Autorin, deren Eltern nicht aus Deutschland stammen, erzählte, sie sei auf einer Pressekonferenz von einem Kollegen rüde angerempelt worden. Sie führte das auf Sarrazin zurück. Und ich traute mich nicht, Zweifel anzumelden. Eine Situation ist vergiftet, wenn alle Vorkommnisse nur noch unter einem Aspekt betrachtet werden können. 
So stellte ich fest, dass Sarrazin und seine Kampagne durchaus Einfluss ausübten. Ein Mann schimpfte im Kaufhaus über eine ältere, verschleierte Frau, die sich vordrängelte. Der Mann sagte: »Da brauchen die sich nicht wundern über Sarrazin!« Ich fragte mich, wer sich eigentlich nicht wundern sollte? Vordrängler? Alte Frauen? Aber ich dachte ebenso darüber nach, warum sich eigentlich eben diese älteren verschleierten Frauen in der Debatte nicht mal zu Wort meldeten. Hatte sie niemand gefragt?
Ich ging zum Imbiss. Der Mann, der die türkische Pizza zubereitet, konnte meine Bestellung nicht verstehen. Jemand kam aus der Küche, übersetzte und ging wieder. Die Pizza war kalt, aber ich empfand es als zu umständlich, erneut auf meinen Übersetzer zu warten, um meine Reklamation vorzubringen. Während ich missmutig die kalte Pizza kaute, war es mir, als hörte ich Sarrazin kichern. Da spürte ich, wie verlockend es sein kann, Sarrazin auf den Leim zu gehen.
Ich bemerkte aber auch den gegenteiligen Reflex: Einmal wollte ich mich am Kiosk mit dem türkischstämmigen Besitzer gemein machen, indem ich zu meiner Begleitung demonstrativ abfällig über die Bild-Zeitung und deren Unterstützung von Sarrazin sprach. Der Kioskbesitzer glotzte bloß weiter auf seinen Fernseher, sagte »Bayern immer Glück«. Ich glaube, Sarrazin war ihm egal.
Ohne die Krawallmedien und ebenso die apokalyptisch gestimmten Sarrazin-Gegner wäre ich in all diesen Alltagssituationen unbefangen gewesen. Sorgen machen ich mir aber nicht. Denn bald wird die Sarrazin-Debatte erlöschen sein. Dann tingelt ein anderer Depp mit einem anderen Thema durch den Boulevard. Und dann, aber wirklich erst dann, werde ich mich wieder aufregen, wenn man mir kalte türkische Pizza andreht.