Jenseits bürgerlicher Moral

Schon einmal hat sich Andres Veiel mit der RAF beschäftigt. In seinem Dokumentarfilm »Black Box BRD« (2001) kontrastierte er die Biografie des Bankiers Alfred Herrhausen, der im November 1989 von RAF-Terroristen getötet wurde, mit der Biografie des 1993 in Bad Kleinen von Polizisten erschossenen RAF-Mitglieds Wolfgang Grams. »Wer wenn nicht wir«, der erste Spielfilm Veiels, nimmt sich des Sujets erneut an, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Diesmal steht die Vorgeschichte der Organisation im Mittelpunkt, geht es darum, wie Gudrun Ensslin und Bernward Vesper in den 60er Jahren versuchten, eine Liebe jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen zu leben, während sie sich zugleich politisch radikalisierten.

Für Vesper, den Verleger und Schriftsteller, mündete das Jahrzehnt in die Niederschrift seines Romans »Die Reise«, eine Psychose und schließlich in den Freitod. Ensslin verliebte sich in Andreas Baader, sagte sich von ihrer Familie los (Vesper und sie bekamen 1967 einen Sohn, Felix Ensslin) und legte 1968 Feuer in einem Frankfurter Kaufhaus.

»Wer wenn nicht wir« stützt sich in weiten Teilen auf Gerd Koenens vor acht Jahren erschienenes Buch »Vesper, Ensslin, Baader«. Für diejenigen, die es nicht gelesen haben, fördert der Film viel Überraschendes zutage, unter anderem, dass Vesper, der Sohn des Blut-und-Boden-Dichters Will Vesper, in den frühen 60er Jahren zwischen radikal rechten und radikal linken Positionen wechselt. Als Student buhlt er bei seinem Professor Walter Jens um Anerkennung für die Schriften seines Vaters, als Verleger gibt er sie neu heraus. Zugleich stellt er einen Reader mit Texten gegen die atomare Aufrüstung zusammen, für den er progressive Autoren gewinnt. Wer bisher dachte, die linke Opposition in der jungen Bundesrepublik sei aus der radikalen Abwehr der nationalsozialistischen Eltern hervorgegangen, reibt sich verdutzt die Augen.

Für das Nebeneinander von Aufbruch einerseits und Bindung an trübe Tradition andererseits findet Veiel überzeugende Bilder, etwa dann, wenn er das junge Paar in einer Tübinger Wohnung mit Mustertapeten und Ehebett versuchen lässt, ihre offene, unkonventionelle (und überaus zerstörerische) Beziehung zu leben. Doch je weiter »Wer wenn nicht wir« fortschreitet, je näher die bekannten Ereignisse – 2. Juni, Kaufhausbrand, Prozess, Baaders Befreiung – heranrücken, umso weniger kann Veiel einen eigenständigen Zugriff auf die Zeitgeschichte behaupten.

Wer wenn nicht wir. D 2011, R: Andres Veiel, D: August Diehl, Lena Lauzemis, Alexander Fehling, 124 Min. Start: 10.3.