Foto: Manfred Wegener / Frank Domahs

Teebeutel, Sonnencreme und Taschentücher

Mit viel Glück haben Heiko Wegner und Barbara Pelz den

Archiv­­einsturz überlebt. Wie man nach einem solchen

Ereignis weitermacht, haben sie Martin Klein erzählt

Das Foto zeigt einen jungen Mann in kurzärmligem weißem Hemd. Die linke Hand hat er lässig in die Hüfte gestemmt, mit der rechten hält er sein Handy ans Ohr. Neben ihm ein heller Schrank, im Hintergrund sieht es nicht wirklich aufgeräumt aus, eine Studentenbude offensichtlich. Es wäre ein banales Foto, wäre das Bild in der Wohnung von Heiko Wegner gemacht worden. Es wurde aber von der Straße aus gemacht, was möglich wurde, weil die Außenwand des Hauses nicht mehr existiert; sie ist wenige Sekunden vor der Aufnahme mit einem Teil des Hauses Nr. 220 in der Severinstraße eingestürzt. Mit hinab gerissen vom Stadtarchiv.

Und so steht der junge Mann am frühen Nachmittag des 3. März 2009 im vierten Stock einen halben Meter vor dem Abgrund. »Ich habe gar nicht registriert, dass ich fotografiert wurde«, erzählt der 32-Jährige zwei Jahre später, »ich habe in diesem Moment mit meiner Mutter telefoniert, um ihr zu sagen, dass mir nichts passiert ist, dass ich in Sicherheit bin.« Womit er größte Verwirrung stiftete, denn seine Mutter wusste noch gar nichts von der Katastrophe am Waidmarkt, die sich soeben ereignet hatte, bei der zwei Menschen starben und die Stadt ihr Archiv verlor. »Meine Mutter hat überhaupt nicht verstanden, was ich da erzählte, aber ich stand auch etwas neben mir.«

»Da sahen wir im Flur einen Riss in der Wand«

Der Einsturz hatte sich nur kurz angekündigt, zunächst durch Geräusche, hinter denen Wegner und seine Freundin Barbara Pelz, die mit ihm in der Wohnung war, Dacharbeiten vermuteten. »Wir sind ins Treppenhaus gegangen um nachzusehen«, kann er sich an die fünf, sechs Minuten erinnern, »es war aber niemand auf dem Dach; dann sahen wir im Flur einen Riss in der Wand und ich dachte sofort: Das Haus stürzt ein!« Zeit, das Gebäude noch vor dem Wegbrechen der Wand zu verlassen, blieb den Bewohnern, insgesamt vier Parteien, nicht mehr.

So waren auch Wegner und Pelz auf ihrer Etage, als drei Viertel des Wohnzimmers sowie Teile des Bades und der Küche verschwanden. Auch das Bett war weg, in dem Barbara bis eben noch gelegen hatte. »Ich war nur kurz aufgestanden und in die Küche gegangen, und wollte schon wieder zurück ins Bett, als wir die Geräusche hörten«, erinnert sich die heute 29-Jährige an das Unglück, das sie glücklich überlebte. Dabei waren die Bewohner des Hauses an Geräusche bereits gewöhnt: »Wir hatten schon oft abends und nachts bei der KVB angerufen, weil der Baulärm einfach unerträglich war.«

»Alles, was wir besaßen, war weg«

Auf dem Weg nach unten klopfte das Paar noch bei Nachbarn und half den Vermietern, die in ihrer Wohnung im ersten Stock eingeschlossen waren, da die Wohnungstür durch Geröll versperrt war. »Wir haben die Tür aufgebrochen und sind dann alle durch deren Fenster raus auf die Straße.« Alles, was sie dabei hatten, war eine so schnell wie sinnlos gepackte Tasche: »Ich hatte noch kurz überlegt, den Schrank auszuräumen«, erinnert sich Pelz, »doch ich war wohl zu verwirrt und habe Teebeutel, Sonnencreme und Taschentücher eingepackt.«

Zurück in die Wohnungen durften die Bewohner nicht mehr. Zu groß war die Gefahr, dass der Rest der Ruine noch einstürzt. Mit dem Abriss des Hauses Severinstraße 220 wenige Tage später war dann alles Hab und Gut vernichtet. »Alles, was wir besaßen, war weg«, sagt Heiko, »auch geliebte Erinnerungsstücke wie eine alte Lederjacke meines Opas.«

Höhe der Entschädigung ist noch strittig

Die Versprechen von Stadt und KVB, schnell und unbürokratisch zu helfen, haben sich bis heute nicht erfüllt. Bislang wurde nur eine Teilentschädigung gezahlt. Weil man sich derzeit in einem schwebenden Verfahren befinde, hat Wegners Anwalt zu Schweigsamkeit in der Öffentlichkeit geraten. »Nur so viel: Unbürokratisch war es bisher jedenfalls nicht – wir haben eine zwanzig DIN-A-4-Seiten lange Auflistung unserer verlorenen Gegenstände einreichen müssen.«

Die KVB hat zwar bereits ein Schuld­an­erkenntnis abgegeben, so dass eine Entschädigung gezahlt werden muss, strittig ist allerdings die Höhe. Besonders ärgerlich sei dabei die Strategie der Gegenseite: »Wir verstehen ja, dass auch die Versicherung die Schadensumme im Rahmen halten will, aber es ist unschön und auch unverschämt, wenn wir kleingerechnet werden sollen mit dem Argument, wir seien ja Studenten gewesen, die kaum Besitz haben konnten«, sagt Pelz, die als Zeugin bei den Verhandlungen auftritt, während Wegner Kläger ist. »Wir warten sehnsüchtig auf den Tag, an dem das Verfahren endgültig abgeschlossen ist.«

Zu Gast bei RTL, WDR und n-tv

Besser lief es bei der Suche nach einer neuen Wohnung, nachdem sie die ersten Nächte bei Eltern und Freunden verbracht hatten. Mit viel Engagement und der Unterstützung durchs Wohnungsversorgungsamt konnten sie knapp zwei Monate nach der Katastrophe eine neue Wohnung beziehen. Wieder Südstadt, »aber wir haben genau darauf geachtet, dass weit und breit kein U-Bahn-Bau stattfindet.«

Am schnellsten reagiert nach dem Einsturz haben natürlich die Medien, insbesondere die Medien, deren Geschäft der Vertrieb von Schicksalen und Sensationen ist. Wegner war Gast bei Stern TV bei RTL, aber auch der WDR und n-tv holten ihn vor Kameras und Mikros. »Die Art und Weise, wie RTL mit dem Thema umging, war im Nachhinein schon abstoßend«, erzählt er, »es ging nicht um uns, sondern nur um eine möglichst spektakuläre Darstellung.« Überhaupt: Die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung des Unglücks kann Wegner bis heute nicht nachvollziehen: »Da sind zwei Menschen gestorben, die ich zwar auch nur vom Grüßen kannte, doch der Fokus in der Berichterstattung lag immer auf dem Einsturz des Stadtarchivs.«

Keine Schicksalsgemeinschaft der Hausbewohner

Nach dem Unglück nahm er, der fünf Jahre in dem Haus gelebt hatte, eine Auszeit von seinem Studium und psychologische Betreuung in Anspruch: »Ich wollte wissen, ob ich Traumata davon getragen habe.« Auch seine Freundin begab sich in eine Therapie. Ihre Vermieter hättem Therapieangebote abgelehnt, erzählt sie, und seien später immer wieder von Alpträumen heimgesucht worden. Eine Schicksalsgemeinschaft der Hausbewohner habe sich nicht ergeben. »Wir haben die Nähe unserer Freunde und Familien gesucht«, sagt Barbara, »und dort viel Halt und Unterstützung bekommen.«

Dennoch hat das Paar Veränderungen in Alltag und Lebensführung feststellen müssen: »Wir reagieren empfindlicher auf ungewöhnliche Geräusche und meiden bestimmte Gebäude«, erläutern beide. Räume, unter denen der U-Bahn-Bau weitergeht. Mit der KVB fahren sie wieder, der ärgerlichen Verhandlungen um die Entschädigung zum Trotz, aber in die Nord-Süd-Bahn, sollte sie mal fertig sein, wollen sie nicht einsteigen: »Auch unser Anwalt, der die Untersuchungen der Ursachen des Einsturzes sehr genau verfolgt, warnt, dass eine U-Bahn dort weiterhin eine gefährliche und riskante Angelegenheit ist«, erklärt Pelz.

Langsam kehrt Normalität ein

Um das Areal, auf dem das Haus stand, hat Heiko Wegner lange einen Bogen gemacht. »Inzwischen geht’s wieder, überhaupt kehrt irgendwann wieder eine gewisse Normalität ein«, meint er, so habe er als Überlebender zunächst bewusster gelebt, bewusster leben wollen, »doch das hat sich wieder gelegt, die Vorsätze verschwinden.« Nur an diesem Punkt ist sich das Paar uneins: »Ich weiß, dass Heiko das so sieht, aber bei mir ist es anders«, sagt Barbara Pelz, »mir ist sehr klar geworden, dass jeder Tag der letzte sein kann, also versuche ich, nichts mehr zu verschieben und auf meine Prioritäten zu achten: Was ist wirklich wichtig und wofür stehe ich morgen auf?«

Wenn sie auch viele persönliche Dinge unwiederbringlich verloren hätten, so hätten sie auch etwas gewonnen: »Auch wenn man sich dafür solche Anlässe nicht wünscht«, sagt sie, »der Wert von Freundschaften und Familie ist noch größer geworden.« Pläne für den 3. März 2011, den zweiten Jahrestag des Unglücks, haben sie bereits: »Wir werden essen gehen«, sagt Barbara Pelz, »und uns freuen.«