Vom Bürgerschreck zum Vorbild

Wer in einem Film vor Zuschauern in einen Kamin uriniert, ist wahrscheinlich Künstler. Über das Künstlerbild Hollywoods und »Pollock« von Ed Harris.

Filmkameras vom Stereotyp der »Geschichte eines Genies« fern zu halten, sei so schwierig, wie Ameisen daran zu hindern, sich ungeschütztem Zucker zu widmen, schrieb Parker Tyler, der legendäre New Yorker Avantgardefilm-Kritiker, in einem Artikel aus dem Jahr 1954. Tyler hatte gerade John Hustons »Moulin Rouge« gesehen (nicht zu verwechseln mit Baz Luhrmans Film gleichen Titels) und war wenig amüsiert über die Verfilmung der Biografie des Malers Henri de Toulouse-Lautrec. Eine »bittere und schöne Geschichte« hätte man aus diesem Leben machen können. Statt dessen sei wieder nur die groteske Mär vom großen Genie geblieben, das sich aus Liebe zu einer Frau zu Tode säuft.
Für Tyler war das Misslingen von Hustons »Moulin Rouge« kein Einzelfall. Er argumentierte auf der Basis einer Reihe von Spielfilmen, deren Thema das Leben und Sterben historischer oder fiktiver bildender Künstler ist: »The Moon and Sixpence« (1942; Regie: Albert Lewin; mit George Sanders als Wiedergänger Paul Gauguins), »Rembrandt« (1936; Regie: Alexander Korda; mit Charles Laughton in der Titelrolle) oder »Scarlet Street« (1945; Regie: Fritz Lang; als talentierter Sonntagsmaler zerbricht Edward G. Robinson an der Schlechtigkeit der Welt).

Monstren mythischen Ausmaßes

Das Scheitern dieser Filme, davon war Tyler überzeugt, hat einen zentralen Grund: Hollywood bedient mit dem Subgenre des Künstlerfilms ein Ressentiment, das tief im populären Unbewussten verwurzelt ist. Es richtet sich gegen den Typus des Künstlers, gegen dessen Anmaßungen und antisoziale Posen. Zu Monstren mythischen Ausmaßes stilisiert, dürfen die Künstlerfiguren im Film hoch fliegen, müssen aber am Ende stets übel abstürzen. Zu empfindlich würde ihr etwaiger Triumph die herrschende, massenkulturell regulierte Ordnung in Frage stellen.
Zwei Jahre, nachdem Tyler zu seiner Einschätzung über die methodische Inkompetenz der Filmindustrie in der Frage der Repräsentation des Künstlers gekommen war, starb der wohl berühmteste amerikanische Maler der Gegenwart einen Hollywood-reifen Tod. An einem Augustabend im Jahr 1956 stieg der 45-jährige Jackson Pollock angetrunken in Begleitung seiner Geliebten Ruth Kligman und deren Freundin Edith Metzger in seinen offenen Achtzylinder-Oldsmobile. Bei hoher Geschwindigkeit kam der Wagen von der Straße ab. Pollock und Metzger fanden den Tod.

Jack the Dripper

Vorausgegangen waren Jahre der Erfolglosigkeit, des Alkoholismus, des Weltruhms und der Schaffenskrise des Malers. Das Time-Magazin hatte Pollock »Jack the Dripper« getauft. Manchen Kritikern galten seine großformatigen Tropfbilder als Beispiele existenzialistischer »action painting«, andere sahen in ihnen die konsequente Radikalisierung der Lehren des Kubismus, die endgültige Befreiung zur Fläche und zur Farbe.
Mit Unterstützung des Kunstmarkts und von Zeitschriften wie Life und Vogue wurde Jackson Pollock aber auch zum ersten amerikanischen Künstler, der sich einer breiteren Öffentlichkeit als Marke zu verkaufen wusste. Sein rustikal-maskuliner Jeans-&-T-Shirt-Look, auf vielen einprägsamen Fotografien verewigt, und Bilder, die zeigen, wie der Maler über der auf dem Boden ausgebreiteten Leinwand mit tänzerischen Bewegungen den Pinsel tropfen lässt, machten Pollock zum Kunst-Pendant von Marlon Brando und James Dean, den Hollywood-Ikonen junger, wilder, aber auch gebrochener Männlichkeit mit Zigarette im Mundwinkel.

Ed Harris und Pollock

Es sollte aber 45 Jahre dauern, bis das erste biopic über diese filmreife historische Figur pünktlich zur Oscar-Nominierung 2001 in die amerikanischen Kinos kam. Zu verdanken war dies Ed Harris. Fast zehn Jahre hat der viel beschäftigte Schauspieler (u.a. »The Truman Show«, »A Beautiful Mind«) als Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller auf das Projekt »Pollock« verwendet. Ende der 80er Jahre fiel dem Method Actor eine Pollock-Biografie in die Hände. Sofort begann Harris, sich mit dem Künstler zu identifizieren. Dazu trugen nicht nich nur geteilte Alkoholismus-Erfahrungen und eine gewisse physische Ähnlichkeit bei, sondern auch die Tatsache, dass der Schauspieler selber gern malt.
»Pollock« ist ein solides, von Experimenten weitgehend unberührtes Ausstattungsstück geworden, das die Lebensverhältnisse von Boheme-Existenzen im New York der Kriegs- und Nachkriegsjahre etwas betulich rekonstruiert. Der Film macht bekannt mit ausgewählten Berühmtheiten aus dem Kreis der Künstler, Galeristen, Kritiker und Sammler jener Kunstrichtung, die unter dem Namen »Abstrakter Expressionismus« den Ruf New Yorks als Weltkunsthauptstadt begründen sollte. Die Darsteller tragen den mittlerweile staubig gewordenen Jargon, der zwischen der legendären »Cedar’s Tavern«, den Ateliers auf Long Island und dem Salon der Sammlerin Peggy Guggenheim gepflegt wurde, liebevoll konserviert auf der Zunge. Stars der Szene wie Willem de Kooning, Tony Smith oder Helen Frankenthaler tauchen als eine Art kunsthistorische Spezialeffekte auf. Einige große Auftritte hat der hünenhafte Jeffrey Tambor als Kritikerpapst Clement Greenberg, der die Argumente für Pollocks Einzug in den Kanon des Modernismus lieferte.
Doch im Zentrum stehen Pollock und seine Frau Lee Krasner (Marcia Gay Harden), die Malerin, die sich bis zur Selbstverleugnung dem schwierigen Karrieremanagement ihres Mannes widmete. Sie führten eine stürmisch-symbiotische Ehe, die der Film, nicht gerade feministisch beseelt, als Drama der Abhängigkeit inszeniert.

Glanz und Elend des Schaffenden

Neben den Szenen dieser Ehe sind vor allem die Stellen um Eindringlichkeit bemüht, in denen der kreative Akt ins Bild gebracht wird: Pollock/Harris, dessen Erscheinung expressionistische Schattenrisse auf die sehr, sehr weiße Leinwand wirft; wie er tagelang in seinem Atelier auf und ab tigert; die traumatisch besetzte Leere vor dem ersten Pinselstrich im Blick, bis eines Nachts die Inspiration zuschlägt und er in großen, raumgreifenden Pinselzügen der weißen Leinwand ein Gemälde abtrotzt; der Spuk dauert ein paar Minuten, die KunstfreundInnen erschauern lassen. In der folgenden Szene, bei einem Empfang im Haus von Peggy Guggenheim, wo das gerade entstandene Bild der Öffentlichkeit präsentiert wird, pinkelt der Cowboy-Künstler aus Arizona dann in den Kamin der geldaristokratischen Sammlerin. Wollte man diesen (historisch verbürgten) Vorgang nicht schon immer mal im Breitwandformat mit Dolby-Sound serviert bekommen?

Weitgehend traditionell

Nur in wenigen Momenten scheint der Film über seine eigene Rolle in der kulturellen Mythenproduktion zu reflektieren; ansonsten hält sich »Pollock« weitgehend an die traditionellen Methoden, das tragische Leben eines Genies am Rande des Wahnsinns zu schildern. Die exzessive Künstlerfigur wird durch Pathologisierung bestraft, wie schon Parker Tyler kritisiert hat.
Sie als kontaktgestört, hypersexuell, süchtig, manisch-depressiv usw. zu schildern, gehört zur Konvention, mit der KünstlerInnen ins romantisch-revanchistische Bild des künstlerischen Individuums eingepasst werden – von Vincent van Gogh (Vincente Minnellis »Lust for Life« von 1956 mit Kirk Douglas, vielleicht der Künstlerfilm schlechthin) bis Camille Claudel (1988 von Isabelle Adjani in einem opulenten Historienschinken dargestellt), von Frida Kahlo (demnächst wird die mexikanische Surrealistin von Salma Hayek verkörpert) bis Andy Warhol (David Bowie spielte ihn in »Basquiat«) und in mehreren hundert weiteren Spielfilmen der Filmgeschichte, die von leidenden und liebenden, aber auch mordenden und sexkranken KünstlerInnen bevölkert sind.

Kreatives Leben am Limit

Obwohl in vieler Hinsicht antiquiert, wirkt ein Film wie »Pollock« mit seinen Versuchen, die große Show der Kreativität vorzuführen, heute zugleich merkwürdig zeitgemäß, wenn auch auf andere Weise als in den 50er Jahren: War der »Künstler« damals vor allem pittoresk-suspekter Bürgerschreck, ein schillernder Freak, ist das Künstlertum inzwischen zu einem der Modelle des flexibilisierten, pseudo-autonomen Subjekts im Neoliberalismus geworden. Jackson Pollocks Ausschweifungen mögen nicht mehr zum Skandal gereichen. Aber in ihnen steckt der ideologische Appell, selber ein kreatives Leben am Limit zu führen, sich der totalen Freiheit (des Marktes) auszuliefern.

Pollock (dto) USA 01, R: Ed Harris, D: Ed Harris, Marcia Gay Harden, Amy Madigan, 110 Min. Start: 6.6.