Illustrationen: Andreas Klammt

Rezept unserer Sehnsuechte

Entscheidend ist nicht, was in »Der kommende Aufstand« alles steht, sondern was der Text widerspiegelt und repräsentiert.

Nichts geht mehr. Das Leben zerschellt an den Formen – an den Formen von Demo­kratie, Kapital, Staat, Nation und Konsum. Das Individuum erlebt sich als Arbeitskraft­behälter, als Mini-Staat, als permanentes Desaster in seiner Paar-Beziehung. In seiner Freizeit agiert es nicht mehr als Subjekt seiner Wünsche, sondern ist Objekt der blinkenden, funkelnden Konsumwelt. Politisch ist es ebenso trostlos: Die linken Szenen versprühen schon lange keinen Esprit mehr, und Engagement zeigen? Wäre es doch wenigstens sinnlos! Stattdessen ist es furchtbar langweilig, quälend öde. »Je mehr ich Ich sein will, desto mehr habe ich das Gefühl von Leere«, kon­statiert das Unsichtbare Komitee in seinem Meis­terpamphlet »Der kommende Aufstand«.

 

Nichts geht mehr. Seit ein paar Jahren sehen sich die Mächtigen der Welt mit immer zahlreicheren, immer heftigeren Revolten und Rebellionen konfrontiert. Auf ­jeder gesellschaftlichen Ebene. Im Herbst 2005 kommt es zu wochen­langen Ausschreitungen und Zer­störungsorgien in den französischen Vorstädten, Frankreichs Peripherie brennt. Besonders beängstigend: Die Aufständischen stellen keine Forderungen, schicken keine Sprecher zu Verhandlungen. Im Frühjahr 2006 bricht im mexikanischen Bundes­staat Oaxaca ein mehrere Monate dauernder Aufstand aus, aus einem Streik der Lehrergewerkschaft ent­wickelt sich eine Selbstverwaltungsbewegung, Räte werden ins Leben gerufen. Für einen historischen Moment wird Oaxaca zu einer autonomen Republik, der Zentralstaat muss sich zurückziehen.

 

Im Dezember 2008 bricht eine militante Jugendrevolte in Griechenland los, unterstützt wird sie von streikenden Studenten, selbst in der Arbeiterschaft gärt es, erste Bündnisse zwischen den Marginalisierten, Prekarisierten und verarmten Arbeitern werden geschlossen. Mitten in Europa kann eine moderne Demokratie immer größeren Teilen ihrer Bevölkerung keine gesicherte Zukunftsperspektive bieten. 2010: China wird von der mut­maßlich größten Streikwelle in seiner Nachkriegsgeschichte er­schüttert, Textilarbeiter in Bangladesh legen wochenlang die Arbeit nieder, in ganz Europa finden Abwehrkämpfe gegen die Sparpläne der Regierungen statt, in England kommt es zu den gewalttätigsten Studierendenprotesten seit Jahrzehnten. Im Dezember bricht in Georgia der größte Gefängnisstreik in der amerikanischen Geschichte aus, es geht um die elementarsten Rechte.

 

Zwischen den breaking news vernimmt man ein konstantes Summen: in Berlin brennen Autos, kleinere Streiks gehören mittlerweile zum Alltag, junge Leute kämpfen in ganz Europa um selbstbestimmte Räume und autonome Zentren, irgendwo in der südwestdeutschen Provinz regen sich bis dato unauffällige Bürger höllisch über einen Bahnhofsneubau und die damit verbundene Geschäftemacherei auf?…

 

Schließlich die ersten Wochen des neuen Jahres: die arabische Revolution scheint auszubrechen. Repressive, korrupte, sich auf ein ausgeklügeltes Klientelsystem stützende Regimes, seit Jahrzehnten im Machterhalt gestählt, werden binnen weniger Tage hinweggefegt (Tunesien) oder taumeln in die Agonie (Ägypten). Welches Regime implodiert als nächstes? Das algerische, das jemenitische?

 

Politologen und Protestforscher sind sich einig: Derzeit geht es auf der Welt unruhiger zu als 1968. Eine Nachricht – empirisch hinreichend belegt –, die selbst bei den optimistischsten Linken in (West-)Europa ungläubiges Staunen hervorruft. Mit »Nichts geht mehr« sind eben nicht nur die Herrschenden konfrontiert, sondern auch sie selbst: Die Linke scheint Lichtjahre davon entfernt, die öffentliche Präsenz wiederzugewinnen, die sie für kurze Zeit nach 1968 innehatte, ihre Gruppen zerfallen, verharren auf Sekten­niveau, und wie antiquiert ihr Jargon wirkt! Da ist noch von der Partei die Rede oder von gewerkschaftlicher Gegenmacht, man möchte um die kulturelle Hegemonie kämpfen und die Wirtschaftsdemokratie verwirklichen.

 

»Der kommende Aufstand«, jenes 2007 erstmals auf Französisch und 2010 endlich auch hierzulande erschienene Traktat eines Unsichtbaren Komitees (das trotz eini­ger politischer Skandale bis heute nicht enttarnt ist), repräsentiert die ideelle Schnittstelle dieser widersprüchlichen Erfahrungen: Am Anfang steht die furiose Abrechnung mit dem westlichen Individuum, eine Diagnose des Ich-Zerfalls und der Hyperanpassung an den reinen Kapitalismus: »Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich ist wesens­mäßig das unendlich anpassungsfähige Subjekt, das von einer Produktion erfordert wird, die sich auf Innovation, beschleunigten Verfall der Technologien, beständige Umwälzung der gesellschaftlichen Normen, verallgemeinerte Flexibilität gründet.«

 

Gleichzeitig durchweht den Text die Gewissheit, dass der kommende Aufstand real sein wird. Das Komitee besingt die untergründige Gemeinschaft in den Vororten, den Ghettos und Slums: Was eben noch Ausdruck größter Entfremdung ist, ist im nächs­ten Abschnitt bereits eine Ressource des Widerstandes. Aus dieser Mischung von Kulturpessimismus und unmittelbarer Revolu­tionserwartung ziehen sie den Schluss, mit allen bisherigen Organisationsformen der Linken abzurechnen: keine Vollversammlungen, keine Milieus, kein Engagement in Parteien und Gewerkschaften. Stattdessen ein Kult der Kompromisslosigkeit, der Verschwörung und der Kleingruppe – die den Kommunismus bereits vorwegnimmt: »Die Kommune ist die elementare Einheit der Partisaneneinheit.« Die Staatsmacht soll gar nicht mehr erobert werden, die Revolution muss man sich vielmehr als permanenten Prozess vorstellen und – ein Widerspruch – als Ausstieg aus der Staat-Kapital-Megamaschine.

 

Wesentliche Leistung des Manifestes ist die Sinnstiftung. Ein Zusammenhang wird zwischen durchaus disparaten Ereignissen her­­gestellt, mögen die Verlaufsformen der Revolten in Oaxaca und in Griechenland auch höchst unterschiedlich sein. Dem bindungslosen Individuum der westlichen Hemisphäre wird in Aussicht gestellt, im Aufstand zu einer neuen, wahrhaft tiefen Gemeinschaft zu finden. Die Schwäche der Linken wird zur Stärke der globalen Aufstandsbewegung erklärt: Erst wenn die Leute es nicht mehr nötig haben, hinter roten Fahnen herzulaufen, werden sie die große Revolution machen können.

 

Die größte Sinnstiftung leistet das Mani­fest aber unmittelbar für seine Zielgruppe: für die kleinbürgerlichen Intellektuellen, jene regelrecht über-bildeten jüngeren Leute, die trotz ihres angehäuften Wissens weit von den Privilegien entfernt sind, in deren Genuss ihre Eltern (die »68er-Generation«) noch kamen. Denn einerseits ist der Text gespickt mit Anspielungen und Zitaten, die man lustvoll de­chiffrieren kann, andererseits sind sich die Autoren nicht zu schade, konkrete Hinweise für den Aufstand zu geben – wer im »kommen­den Aufstand« auch einen Aufruf zum Waffen­gang erblickt, liegt nicht ganz falsch.

 

Das Hohe und das Niedere verschmelzen, Diagnose und Prognose fallen zusammen. Dabei ist es völlig unerheblich, ob das Manifest tatsächlich relevante militärwissenschaftliche Ele­mente enthält oder ob es das Niveau der Theorien, bei denen es sich bedient, erreicht.

 

Ebenfalls unerheblich ist, ob dieser Text, wie es einst so schön hieß, die Bewegung weiter bringt. Natürlich nicht. Denjenigen, die bereits auf den Straßen gekämpft und auch gewütet haben, werden die Strategien des Komitees entweder zu abstrakt und wolkig oder als selbstverständlich-banal erscheinen. Während der Text zur Praxis drängt, darf er genau das nicht sein: eine Anleitung zur Praxis. Denn das würde den Aufständen wieder eine Struktur, eine Identität, eine verbindliche Adresse geben und würde sie damit wieder berechenbar machen.

 

Das Gesichtslose vieler Aufstände ist es doch, was sie in den Augen der herrschenden Öffentlichkeit so beängstigend macht. Niemand bekennt sich zu den brennenden Autos in Berlin, die Riots in den französischen Trabantenstädten verfolgten kein Programm, in China gibt es keine Untergrundgewerkschaft – die Streiks entstehen aus der Mitte der Arbeiterschaft heraus. Angesichts des Umsturzes in Tunesien formulierte Gero von Randow, Korrespondent der ZEIT, etwas klamm: »Es gibt allerdings keine nennenswerte Opposi­tion, auch keine echte Oppositionspartei und auch keine allgemein anerkannten Führungspersönlichkeiten; die Bewegung war zu kurzzeitig, um eigene Führer hervorzubringen.« Wohlgemerkt: Der Präsident verlässt fluchtartig das Land, aber es gibt keine Opposition – wer hat ihn dann weggejagt?

 

Dieses Unheimliche an den neuen Revolten spiegelt »Der kommende Aufstand« wider. Das Pamphlet ist kein Ausdruck einer neuen »Diskursmacht«, es ist nicht die »rote Mao-Bibel« unserer Generation. Es stellt nur fest. Es hält eine zutiefst resignierte Botschaft bereit: Gut möglich, liest man zwischen den Zeilen, dass auch den Meisterdenkern der Bourgeoisie, den ultrakritischen Selbstanklägern und den visionären Nihilisten die Wirklichkeit längst entglitten ist. Der Untergang findet sowieso statt, und der Text schildert das Begräbnis erster Güte.

 

Es gibt zwei Arten von linker Kritik am »kommenden Aufstand«. Die gängige lautet: Der Text ist nicht marxistisch genug, er bedient sich bei rechten Vordenkern, er ist zu eurozentristisch, es mangelt an Strategie und Taktik. Kurzum: Man hat das Ideal eines Textes im Kopf und lässt das Manifest daran scheitern. Interessanter ist die Kritik, die einen Blick auf die Wirklichkeit wirft: Was verbindet eigentlich die Aufstände da draußen? Haben sie, wie die einflussreiche Berliner Gruppe »Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft« kürzlich fragte, ein gemeinsames Projekt? Ein Projekt, das über die Dauer eines Aufstandes hinausreicht?

 

Die empirische Evidenz von Revolten erklärt erst mal noch nichts. Was ist mit der Existenz von reaktionären Massenbewegungen? In Italien, einst das Land der heftigsten Klassenkämpfe, gibt es eine faschistische Hausbesetzerbewegung, die ehemals rebellische Fußball-Fankultur ist von rechts unterwandert. In Ungarn organisieren sich frustrierte Bürger in faschistischen Mili­zen und machen Jagd auf Roma. »Der kommende Aufstand« kokettiert an keiner Stelle mit solchen Bewegungen, nimmt sie andererseits aber nur widerwillig zur Kenntnis.

 

Ist »Der kommende Aufstand« der Vorbote noch größerer Erschütterungen? Die Frage ist falsch gestellt. Das Pamphlet ist in erster Linie ein Dokument der Erschütterung der westlichen Intelligenz – angesichts der eige­nen Misere und der Tatsache, dass die Leute zunehmend auf die Straße gehen, ohne dass sie dazu irgendwelche intellektuellen Vor­­turner nötig hätten.