Foto: Manfred Wegener

Club Königsforst: Dunkel, dicht, deutsch

 

Der Wald ist tödliches Labyrinth und rettendes Versteck. Hier begegnet man bösen Hexen, sprechenden Tieren und manchmal auch Gott. Ein Ort für spirituelle Erfahrungen ebenso wie für den Weltuntergang. Bernd Wilberg über den Wald als Mythos und Projektionsfläche.

Es gibt in Deutschland gar keinen Wald. Er hat sich aufgelöst in Ökosystem, Wirtschaftsfaktor, Freizeitwert. Der Wald ist kartografiert, mit einem dichten Wegenetz für Forstwirtschaft und Spaziergänger überzogen. »Im Walde sind die Elfen verschwunden/ Jagdhörner hör ich, Gekläffe von Hunden«, heißt es schon bei Heinrich Heine Mitte des 19. Jahrhunderts. Heute sind auch die Jagdhörner verschwunden und Hunde an der Leine zu führen. Und wenn hier ein Braunbär herumstapft, ist’s nicht Meister Petz, sondern ein forstpolitischer Problembär.

 

Der deutsche Zauber- und Märchenwald existiert nur in den Gedichten und Liedern der Romantik. Dort ist er Seelenlandschaft, tief und dunkel. Jede Waldwanderung gerät zum Gottesdienst, zur metaphysischen Meditation, zur existenziellen Erfahrung. Die Tageszeit, die diesen deutschen Wald gebiert, ist die Nacht.

 

Der Wald ist das Dunkle, und jeder Wald ist immer Schwarzwald. Nicht von ungefähr nennt man eine unverhoffte freie Stelle Lichtung. Die Kronen der Bäume lassen das Sonnenlicht kaum hindurch. Bricht es sich in den Wipfeln nicht gleichsam wie in Kirchenfenstern? Der Wald als riesige naturwüchsige Kathedrale. Der dichte, deutsche Tannenwald und die gotische Architektur – sie ähneln sich nicht nur in ihrer Feier des Vertikalen, auch in der metaphysischen Schwere, die sie vermitteln.

 

Während Meer und Wüste uns in einen horror vacui versetzen, fühlen wir uns im Wald, im schwarzen Grün der Tannen, wie in einem düsteren Labyrinth. »Ich hör die Bächlein rauschen/ Im Walde her und hin/ Im Walde in dem Rauschen/ Ich weiß nicht, wo ich bin«, dichtete Joseph von Eichendorff. Der Fluchtpunkt dieses Orientierungs- und Kontrollverlustes in den Wäldern liegt in der Moderne. Es ist ein Topos des Horrorfilms: die Highschool-Teenager, die immer tiefer in den Wald und in ihr Verderben stolpern. In der erfolgreichen Fake-Doku »Blair Witch Project« folgen verirrte Studenten einen Tag lang dem Lauf der Sonne, um dem böse verwunschenen Wald zu entkommen – und stehen bei Einbruch der Dunkelheit doch wieder dort, wo sie morgens aufbrachen, erschöpfter nur, verstört und voller Angst. Noch bei den technisch hochgerüsteten Geo-Cachern schwingt die Sorge mit, dass sie verloren wären, wenn die GPS-Geräte versagten.

 

Annähernd das gesamte mythologische Personal deutscher Literatur ist im Wald zu Hause. Hier können die Wölfe und die Raben reden, hier gibt es Hexen, Zauberer, Feen und Zwerge. Man hat selbst die Bäume beseelt. Im Schauermärchen erkennt man in ihren Rinden Fratzen, und sie versuchen mit ihren Ästen wie mit Armen nach dem Verirrten zu haschen.

 

Auch die zeitgenössische Comic- und Fantasy-Kultur lässt den Wald erwachen. In Peter Jacksons »Lord of the Rings«-Trilogie gehören die in die Schlacht ziehenden Bäume zu den Effekten, die am längsten nachhallen. Vor allem den deutschen Wald hat man mit einem in Reih und Glied stehenden Heer verglichen. Der beseelte Wald als unsichtbares, dunkles Kollektiv, man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.

 

Es ist auch Militarisierung der Natur – mittels Literatur oder Geschichtsklitterung. Im Teutoburger Wald soll der Cherusker-Fürst Arminius vor zweitausend Jahren die Römer besiegt haben. Im Wald tappte das Imperium in die Falle, ein Hinterhalt als Gründungsmythos des deutschen Nationalismus. Heinrich von Kleist und Caspar David Friedrich feiern diesen Sieg in ihren Werken. Heine verspottete den Kult, den die Nazis später in den Größenwahn erweiterten, während die Führungs-Clique der DDR ihn als Symbol des Widerstands der Unterdrückten deutete.

 

Überhaupt ist der Wald politisch. Zum einen ist er Hort des Widerstands, Rückzugsort von edlen Wilden und kultivierten Räubern. Sie heißen Robin Hood oder Wilhelm Tell, helfen den Armen, vertreiben den Tyrannen. Als deutscher Wald-Rebell ist allerdings vor allem Räuber Hotzenplotz bekannt. Zum anderen ist der Wald Bezugspunkt der Gegenmoderne, von der Romantik über den Nationalsozialismus bis hin zur Ökologiebewegung, in deren Anfängen sich all diese Traditionen  versammelten.

 

Der Wald ist mehr als die Summe seiner Teile, er birgt einen mythischen Überschuss. Auch deshalb ist der Wald Sinnbild für unser Unterbewusstsein, in dem das Verdrängte lauert und die archetypischen Schreck- und Wahngebilde lagern. Selbst der Teufel haust im Wald, wie zuletzt Lars von Trier in seinem Arthaus-Schocker »Antichrist« zeigte.

 

Doch vom Pantheismus des 18. Jahrhunderts bis zur Ökologiebewegung unserer Tage verläuft ebenso eine Traditionslinie, die dem Wald den Schrecken austreiben will. Beflügelt vom New Age der 70er Jahre gingen alte Hippies und neue Esoteriker in den Wald, um Bäume zu umarmen und sich mit ihnen zu unterhalten. Die Welle schwappte bis in den Mainstream. 1968 sang der Schlagerstar Alexandra »Mein Freund, der Baum, ist tot«. Ein Nekrolog als Hit. Es dauerte noch zehn Jahre, dann hatten Umweltschützer den deutschen Wald als Austragungsort der Apokalypse auserkoren. Der Weltuntergang hieß nun Waldsterben, und das Wort hat es als Ausgeburt einer german angst unter anderem ins Englische und Französische (le waldsterben) geschafft.

 

Das Waldsterben ist heute ebenso verschwunden wie die Spukgestalten des Märchens. Wer auf breiten Wegen durch den Königsforst wandert, fürchtet bloß Zecken und den Mückenstich. Wer aber nachts dort herumirrt, den mag auch das Surren der Schnellstraßen, die den Wald begrenzen, nicht beruhigen. Das Rauschen der Autobahnen, es klingt dann fast wie das Rauschen jenes Bächleins, das Eichendorff so verwirrte.