Doris Plenert im »Geiseldrama«-Drama »Nordost«, © MEYER ORIGINALS

Terrorreduktion

Nordost, ein Stück über das Moskauer Geiseldrama von 2002, im Keller Theater

Stell dir vor, du gehst ins The­a­ter – und 42 Schwerbewaffnete nehmen dich und 849 andere Menschen, Akteure, technisches Personal, Zuschauer als Geiseln. Unvorstellbar. Bis zum 23. Oktober 2002 in Moskau, als tsche­tsche­nische Untergrundkämpfer Krieg und Terror direkt in die russische Hauptstadt tragen und eine Vorstellung des Musicals »Nordost« stürmen. Ihre Forderung: sofortiger Abzug der russischen Armee aus Tschetschenien. Weltweite Fassungslosigkeit. Vor dem Gebäude fahren Spezialeinheiten und Rettungsdienste auf, Ver­hand­lun­gen zwischen Sicherheitskräften und Terroristen beginnen. 57 Stun­den später wird das Theater gestürmt, 170 Menschen, darunter alle Geiselnehmer, sterben.

 

Untersuchungen der Fehler folgen, die bei dem Einsatz gemacht wurden. Untersuchungen zum Anliegen der Geiselnehmer folgen nicht: Russland führt(e) in Tschetschenien einen schmutzi­gen Krieg. Aber burkatragende Frauen mit Sprengstoffgürteln, bereit zum Märtyrertod, machen uns Sympathie für diese Täter, die auch Opfer sind, schwer.

 

Torsten Buchsteiners Stück »Nordost« weiß um dieses Dilemma und lässt drei Frauen ihre Verstrickung in die Geschichte erzählen. Die glückliche Moskauer Ehefrau und Mutter, die als Zuschauerin in einem Albtraum landet. Eine Notärztin, ursprünglich aus Lettland, die vor Ort erfahren muss, dass ihre Tochter und ihre Mutter unter den Geiseln sind. Eine junge tschetschenische Frau, die willig Burka und Spreng­stoff­gürtel anlegt, um im Laufe der 57 Stunden festzustellen, dass sie nicht bereit ist, sich von den männlichen Planern opfern zu lassen.

 

Diese Frauen begegnen ein­an­der, ohne sich kennen zu lernen, ohne zu ahnen, dass der russisch-tschetschenische Krieg alle drei zu Witwen machen wird. Den Auftakt bestreiten die drei im Treppenhaus des Keller Theaters, gekleidet in festliches, bräutliches Weiß. Auch später, im Theatersaal, bleibt das Prinzip Guckkas­ten außen vor, hat jede ihren ei­genen Raum: Olga sitzt als Zuschauerin im Publikum, Zura, die schwarze Witwe mit Pailettenschleier, sexy Minikleid und Video­kamera, beherrscht den Bühnenraum; Tamara kann zunächst nur von außen zusehen und bleibt im Hintergrund.

 

Es gibt keinen Dialog zwischen den Figuren, wie es bei vergleichsweise kurzen Geiseldramen selten einen Dialog zwischen Geiseln und Geiselnehmern gibt und es in diesem Fall offensichtlich auch keinen zwischen den politisch Verantwortlichen beider Lager ge­geben hat. Doch die drei begrenzten Beobachtungs- und Handlungsausschnitte ergeben in der Inszenierung von Daniel Kuschewski ein komplexes, hochspannendes Gesamtbild.

 

»Nordost« von Thorsten Buchsteiner, R: Daniel Kuschewski