Zwei Dutzend Festivals, keine CDs: Reiner Michalke ordnet das Chaos, Foto: Manfred Wegener

Das Barcelona-Prinzip

Das Moers Festival trotzt der Finanzkrise

Die Agenda ist denkbar einfach: das beste Jazz-Festival der Welt ma­chen. Klingt vermessen, scheint unmöglich. Aber unter all den Fes­tivals dieser Welt muss es schließlich eins geben, das besser ist als alle anderen. Und das ist dann: das beste Jazz-Festival der Welt.

 

Für Reiner Michalke, seit 2006 künstlerischer Leiter des »Moers Festival«, in Köln aber vor allem bekannt als langjähriger Programmmacher im Stadtgarten, ist das der Anspruch, die Motivation. Vermessen ist das nicht, aus zwei wiederum einfachen Gründen: Weil zum einen die Anzahl der wirklich ambitionierten Jazz-Festivals erstaunlich gering ist (das hat diese wunderbare Musik gar nicht verdient!), zum an­de­ren aufgrund der langen Tradition in Moers: Seit 1972 hatte Festival-Gründer Burkhard Hennen am Nieder­rhein eine beeindruckende Tradition aufgebaut – gegen den Widerstand der Stadt kompromisslos auf aktuellen, und das hieß damals: radikal frei improvisierten und futuristischen schwarzen Jazz setzend. Schließlich war das Festival so stark, dass auch die Stadt nicht umhin konnte, es zu unterstützen. Selbst schwache musikalische Jahrgänge konnten dem Ruf von »Moers« nichts anhaben.

 

Nicht in Hamburg, nicht in Berlin, nicht in Köln, sondern am Niederrhein

 

Aber was heißt schon »Jazz-Festival«?! Mittlerweile ist es schlicht das »Moers Festival« und betont schon im Namen die stilis­tische Öffnung, die potenziell grenzüberschreitende Dynamik des Jazz. Folgerichtig verzichten die offiziellen Plakate auf die Hervorhebung einzelner Stars. Außer­dem ist der Name ein beharrlicher Hinweis auf einen andauernden Ausnahmefall: Nicht in Hamburg, Berlin oder eben Köln, sondern in der tiefen niederrheinischen Provinz findet jedes Jahr zu Pfingsten eines der weltbesten?…?aber das hatten wir ja schon.

 

Worin besteht die Qualität? In erster Linie in Musikerinnen und Musikern, die man hierzulande noch kaum kennt und die in Moers oftmals ihren ersten großen Auftritt in Deutschland haben. Das hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Erfolgsmodell des spanischen Fußballmeisters FC Barcelona – in die Nachwuchsarbeit die meis­te Zeit investieren. Reiner Michalke schaut sich pro Jahr etwa zwei Dutzend andere Festivals an, taucht für mehrere Wochen in die New Yorker Club-Szene ein – für ihn immer noch die Szene des abwechselungsreichsten Jazz –, vertraut auf ein Netzwerk von Freunden, Musikern und Kollegen, um an aktuelle Tipps zu kommen. CDs hört er grundsätzlich nicht, es zählt allein der Live-Eindruck. Der muss auch zählen, denn in Moers beweisen sich die jungen Acts in einem nervösen Zelt auf großer Bühne vor ein paar Tausend Zuschauern. Es gab schon böse Abstürze.

 

Der Fokus liegt weiterhin auf dem Nachwuchs

 

In zweiter Linie zählt die Tradition, die für das Moment der Kontinuität steht: In den letzten Jahren spielten in Moers Peter Brötzmann, Anthony Braxton, Cecil Taylor, Dewey Redman, Muhal Richard Abrams – Musiker, die in den ersten Jahrzehnten das Festival prägten. 2011 wird mit dem südafrikanischen Pianisten Abdullah Ibrahim einer der maßgeblichen Innovatoren der 60er und 70er Jahre solo spielen. Der 71-jährige Schlagzeuger Ro­nald Shannon Jackson – ein Free-Jazz-Held der ersten Generation und später einer der großen Jazzpunk- und Freefunk-Meister – feiert sein Comeback, ebenso The Golden Palominos, das NoWave-Funk-Schlachtross um den New Yorker Anton Fier.

 

Aber der Focus liegt weiterhin auf den Jüngeren: Auf Orthrelm zum Beispiel, einem Gitarre-Schlag­zeug-Duo aus Washington D.C., das in Deutschland bislang bloß als Gerücht existierte. Mick Barr und Josh Blair spielen superkleinteilige, superpräzise, penibel durchgearbeitete Krach-Musik, ei­ne Art Speedmetal im traumatö­sen Koffeinschock. Am Festivalsamstag sind Orthrelm zwischen dem ebenfalls atemberaubend schnellen Free-Bop-Trio um Saxo­fonist Jon Irabagon und dem HipHop-Afrobeat-Jazz-Spektakel des 29-jährigen New Yorker Trompeters Igmar Thomas platziert. Am Sonntag reiben sich u.?a. die radikal verschiedenen Musikwelten der Koto-Spielerin Michiyo Yagi (die mit ihrem Double Trio auch einen Einblick in die aktuelle Szene Japans gewährt), des Kölner Bassisten Achim Tang (tritt mit seinem herausragenden Trio Torn auf) und des norwegischen Post-Black-Metal-Duos Monolithic.

 

Zum Abschluss macht Helge Schneider Rambazamba

 

Etwas fehlt: der Pfingstmontag. Dem Festival ist der klassische Abschlusstag verloren gegangen – freilich nicht ganz, denn außerhalb des Programms wird Helge Schneider mit Freunden und Gäs­ten Rambazamba machen. Auch die Stadt Moers ist von der kommunalen Finanzkrise getroffen, eine Reihe von Lokalpolitikern erinnerte sich plötzlich, dass sie das Festival noch nie mochten. Tatsächlich stand es auf der Kippe, der »eingesparte« Montag ist eine Konzession an Krise und Lokalpolitik.

 

In den vergangenen Jahren ist es dem Team um Reiner Michalke gelungen, das Festival stärker in der Stadt zu verankern, es ist jetzt das ganze Jahr über präsent: Es gibt Schulprojekte, Gesprächs­kon­zerte, bei denen Improvisatoren in ihre schwierige Kunst einführen, ein Stipendium für einen Composer in Residence wurde geschaffen (dieses Jahr ist die Wahl auf Achim Tang gefallen). Das Festival hat sich eine gewisse Hegemonie erarbeitet, die eine kleingeistige Politik nicht ohne weiteres abtragen kawnn. Für die nächsten zwei Jahre ist die Zukunft gesichert – mindestens. Und das muss auch so sein: Reiner Michalke hat – siehe oben – schließlich noch was vor.

 

Festival: 10.-12. Juni, Festivalzelt im Freizeitpark. Das komplette Programm gibt's unter www.moers-festival.de