Gute Wahl: Szene aus "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat mit Tamer Arslan und Sesede Terziyan, Foto: Ute Langkafel

Online Extra: Klassenspiele

Das Berliner Theatertreffen 2011: Die freie Szene machte das Rennen und das Kölner Schauspiel war zweimal eingeladen

Der erste Knaller des diesjährigen Berliner Theatertreffens, nach wie vor das (jedenfalls mediale) Großereignis des deutschsprachigen Theaters: Drei der zehn eingeladenen Produktionen kommen nicht von städtischen Häusern, sondern aus der freien Szene. Darunter zwei waschechte Freie: die Performancegruppe She She Pop mit »Testament« und die Erfolgsproduktion des Kiez-Theaters Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg, »Verrücktes Blut«. Die dritte freie Produktion ist die eines Toten, der zu Lebzeiten allerdings als Außenseiter etabliert war, Christoph Schlingensiefs »Via Intolerranza II«.

Aber auch über diese drei Einladungen hinaus, kam die diesjährige Auswahlliste der Jury kühn daher. Wenige der üblichen Verdächtigen sind darunter: kein Nicolas Stemann, kein Christoph Marthaler, kein Andreas Kriegenburg, keines der führenden Häuser aus Berlin, München, Hamburg. Dafür einmal Schwerin mit Herbert Fritschs Version von Gerhart Hauptmanns Komödie »Der Biberpelz« und einmal Oberhausen – zweiter Knaller: noch mal Fritsch! – mit einer Radikalkur von Ibsens »Nora«.

Karin Beier in Berlin: mit Jelinek und Wassermassen

Und sonst? Karin Beier setzt ihre Kölner Erfolgsgeschichte fort: wieder zwei Einladungen (»Das Werk/Im Bus/Ein Sturz« und „Der Kirschgarten«). Stefan Pucher hat es mit seiner Züricher Fassung von Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« geschafft, genau so wie Stefan Bachmann mit seiner Burgtheater-Version von Kathrin Rögglas »Die Beteiligten« und Roger Vontobel mit dem einzigen echten Klassiker, Schillers »Don Carlos« (Staatsschauspiel Dresden).

Karin Beiers furiosem Jelinek-Abend wurde die Ehre gegönnt, das Festival zu eröffnen. Die 15-Millionen-Euro-Renovierung des gerade noch rechtzeitig vor Beginn des Theatertreffens fertig gewordenen Festspielhauses im alten West-Stadtteil Wilmersdorf bestand die Feuerprobe – die ja im Fall der Kölner Inszenierung eine Wassermassenprobe war. Beiers Version von Jelineks Stück setzt auf den Antagonismus Natur vs. Technik, was vor allem im letzten Teil über den Einsturz des Stadtarchivs 2009 schier unaufhörliche Sturzbäche aus allen Bodenlöchern und Bühnenrohren zur Folge hat. Der enorme Transferaufwand der Aufführung nach Berlin gelang, alles ging gut über die Bühne. Begeisterung auch in Berlin für die derzeit erfolgreichste Regie-Intendantin im deutschsprachigen Raum.

»
Ihr haltet jetzt mal die Fresse!«: Nurkan Erpulats »Verrücktes Blut«

Wenige Tage später dann das Gegenteil einer solchen etablierten Riesenproduktion: Acht junge SchauspielerInnen zeigen »Verrücktes Blut«, ein Stück des 1974 in Ankara geborenen Berliner Autors und Regisseurs Nurkan Erpulat. Dass diese Produktion eingeladen wurde, ist wahrscheinlich die größte Sensation des diesjährigen Theatertreffens. Denn auch wenn sich Shermin Langhoff, die erfolgreiche Leiterin des Ballhaus Naunynstraße, wo das Stück im Auftrag der Ruhrtriennale entstand, gegen diese Klassifizierung gewehrt hat: Inszenierung und Stück kommen als Jugendtheater daher. Zusammen bilden sie die Produktion des Treffens, die der gesellschaftlichen Realität und Zukunft heutiger Jugendlicher in Deutschland am nächsten kommt. Und damit die mit dem dringlichsten Gegenwartsbezug.

Nurkan Erpulat hat sein gemeinsam mit dem Dramaturgen Jens Hillje verfasstes Stück selbst inszeniert. Sein Stück verhandele oder korrigiere nicht Klischees über Migranten in Deutschland, hat Erpulat gesagt. Es befasse sich ausschließlich mit dem Blick des Zuschauers auf diese Menschen. Einige der acht SchauspielerInnen stehen am Anfang ihrer Karriere - falls sie in diesem Land eine bekommen -, andere haben schon an größeren Häusern und im Fernsehen gespielt. Alle bringen »Hintergründe« mit, alle bis auf einen wurden in Deutschland geboren.

Schiller unter vorgehaltener Knarre


Das Stück zeigt die Lehrerin einer Theaterklasse, gespielt von Sesede Terziyan. Sie will Schiller unterrichten: ästhetische Theorie, »Die Räuber« und »Kabale und Liebe«. Entsprechend der Besetzung haben alle in der Klasse ausländische Wurzeln. Die meisten sprechen ebenso gut deutsch wie Türkisch oder Arabisch. Ziemlich bald fällt in einem handgreiflichen Disziplingerangel eine Pistole aus der Tasche eines Schülers – und in die Hände der Lehrerin. Die wittert die Chance ihres Lebens, sie die sonst nur vergeblich der disziplinlosen Virilität ihrer mehrheitlich aus Jungs bestehenden Gruppe hinterher hecheln konnte. Also zwingt sie ihre Schüler mit vorgehaltener Knarre zu Schiller: »Ihr haltet jetzt mal die Fresse!«

Das ist natürlich ein Widerspruch in sich. Aber jetzt ist sie mal dran, die bislang kleinlaut und strebsam-bebrillt auftrat. Sie dreht den Spieß um. An einem Höhepunkt der Eskalation, die damit eintritt, will sie den größten Macker der Bande, die die Gruppe außerhalb der Schule auch ist, exekutieren. Sie will ein Exempel statuieren. Sie tut es nicht, weil die Schüler die Lehrerin mit den von ihr gepredigten aufklärerischen Ideen Schillers konfrontieren. Doch das Stück macht hier nicht halt. Am Ende hat der hässliche Klassendepp, ein Kurde, die Knarre, im festen Glauben »Ich bin Franz Moor!«, einer der »Räuber«-Brüder aus Schillers Drama. »Wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache.«

Das bestechende an Stück und Aufführung ist, dass es alle Diskursfetzen und Klischees, die nicht erst, aber insbesondere seit Sarrazin im Umlauf sind über Integration und die damit verbundenen deutschen Identitätsmythen, wirklich durcheinander wirbelt. Ein Spiel, das rücksichtslos zwischen Naivität, Aufklärungsglaube, Sentiment und Brutalität changiert, das Comic ist und Groteske, und das spielerische Anleihen bei der Soapästhetik nicht scheut.

Der einzige Klassiker: »Don Carlos« aus Dresden

Vom Staatschauspiel Dresden war Schillers »Don Carlos« in der Regie von Roger Vontobel, Jahrgang 1977, eingeladen. Schon 2006 wurde der gebürtige Schweizer zum »Nachwuchsregisseur des Jahres« gekürt. Seitdem ist Vontobel ständiger Gast an den großen Stadttheatern. Schillers »Carlos«, dieses Drama um Herrschaft, Intrige und Liebe, präsentiert Vontobel gediegen zeitgenössisch – und nur unwesentlich gekürzt. Man braucht durchaus einen langen Atem, um die dreieinhalbstündige Aufführung ohne Ermüdungserscheinungen zu erleben.

Den spanischen Hof Phillips II. (Burghart Klaußner, der Pfarrer in Michael Hanekes »Das Weiße Band«), Vater von Prinz Carlos (Christian Friedel), bildet ein schwarzes Halbrund ab, das aus hohen schmalen schwarzen Schwingtüren gebaut ist (Bühne: Magda Willi). Anklänge an einen nackten Unternehmens-Konferenzsaal. Darin agieren die Spieler in heutigen Kostümen, die zwischen gepflegt-bebrilltem Straßenstil (Matthias Reichwalds Marquis von Posa mit Schulter-Hängetasche), elegantem Abendkleid (Sonja Beißwengers Königin) und Vortandsetagen-Zweireiher bei Philipp II. und, wenn er ihn nicht widerwillig von sich reißt, dem jungen Carlos.

Warum »
Carlos« heute?

Erzählt Vontobel uns also, warum er »Don Carlos« heute macht? Ja und nein. Einerseits bleibt er gefangen in den länglichen Windungen der zeittypischen schillerschen Intrigendramaturgie. Die hätte er durch beherztere Streichungen vermeiden können. So lässt er die verschiedenen Briefintrigen mitspielen, die zwischen den Protagonisten des Dramas ablaufen. Man muss seinen Schiller schon gut drauf haben, um diese Ränkespiele immer exakt nachzuvollziehen.

Andererseits hat Vontobel in Christian Friedel einen exzellenten Hauptdarsteller, der einem durch sein beherztes, unverkrampftes und spannungsreiches Spiel die wechselnden Haltungen und Stimmungen Carlos’ nahe bringt. Der Prinz ringt um die Anerkennung seines Vaters. Nachdem er sich damit abgefunden hat, dass er die Liebe zu seiner Stiefmutter, der dreißig Jahre jüngeren Frau seines Vaters, nicht zur Realität machen kann, bittet Carlos seinen Vater darum, mit dessen Heer nach Flandern ziehen zu dürfen, um die aufständischen Provinzen  des Reiches zu unterstützen. Phillip lehnt ab, Carlos solle lieber zum »Arzte« gehen mit seiner »weichen Seele«.

Wo Christian Friedel glaubwürdig den verletzten Stolz und die Wut spielt, die seinerseits in diesem Konflikt stecken, klingt bei Burghard Klaußners Philipp doch ein altertümlich wirkender, manches Mal bis zum Gedröhne reichender Theaterton durch. Da hilft auch die mafiös getönte Sonnebrille nichts, die er trägt, wenn es an die bewaffnete Durchsetzung der Herrschaftsordnung geht. Packend gerät bei Vontobel Schillers Parteinahme für den politischen Geist der Freiheit, für den Posa und Carlos sich gegenüber dem König einsetzen, der die gefährdete absolutistische Ära repräsentiert.

Später Glückspilz oder Ich will Spaß: der Regisseur Herbert Fritsch


Packend geht es auch bei Herbert Fritsch zu. Nur völlig anders. Der Regisseur ist der späte Glückspilz dieses Theatertreffens. Gleich zwei seiner Inszenierungen hat die Jury eingeladen: Ibsens »Nora«, die er am Theater Oberhausen inszeniert hat und Gerhard Hauptmanns »Biberpelz« vom Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin. Werner Fritsch, dem man seine 60 Jahre nicht ansieht und noch weniger anmerkt, ist ein alter Hase der Szene. Fünfzehn Jahre war er Schauspieler im Ensemble an Frank Castorfs Volksbühne. Hat in den großen Jahren dieses Hauses viele Hauptrollen gespielt und war auch noch dort, als es bei Castorf künstlerisch schon nicht mehr so rund lief.

Am Ende ging Fritsch im Dissens mit dem Intendanten. »Ich war dort nicht mehr geliebt«, findet er. Also Schnitt, Kündigung des Festvertrages und raus auf die freie Wildbahn, von 2007 an inszeniert er selber. Aus der Volksbühnenzeit bleiben seine legendären Frontshows im Verein mit Henry Hübchen oder Milan Peschel in Erinnerung. Fritsch sprengte selbst den eh schon anarchischen Volksbühnenstil mit seinen frei mäandernden, absichtsvoll ins Performancemäßige driftenden Figurenverlusten.

Die Lust am Exzess, an der Fratze und der Körperverrenkung hat er sich in seinem Regiestil bewahrt. »Nora« ist bei ihm nicht das ernste bürgerliche Drama der Emanzipation einer in der Ehehölle Erniedrigten, das es auch in Thomas Ostermeiers Inszenierung 2002 an der Berliner Schaubühne noch war, wenn auch in abgecoolter Form. Fritsch geht es aber gar nicht um den großen interpretatorischen Bogen. Er will Spaß. Und den besorgt er sich über die Spieler.

Fritschs »
Nora«: Wo sind wir hier?

Nora (Manja Kuhl) ist eine ebenso verträumte wie rotzig-brutale und eigennützige Pippi Langstrumpf in Ballettschuhen und Tutu. Als einzige Figur des Stücks ist sie weitgehend positiv besetzt. Alle anderen scheinen geradewegs einem psychotischen Horrorkabinett entsprungen. Die Bühne kennt keine Requisiten – ein Prinzip des Regisseurs Fritsch, um zu verhindern, dass die Schauspieler nicht dauernd daran herumfummeln können, anstatt zu spielen. Im Hintergrund steht nur ein glitzergrüner Plastikweihnachtsbaum. Die Figuren agieren auf einer freien quadratischen Spielfläche, die mit in schillerndem Goldglitzer ausgeschlagen ist.

Wo sind wir hier? Jedenfalls nicht realistisch in Noras und Helmers Wohnung, wie es beim Autor steht (über den Fritsch in Zürich mal ein Schauspielseminar gegeben hat unter dem Titel »Ibsen, die Sau«). Schon eher in einem fantastischen Innenraum der psychischen Abgründe aller Figuren. Helmer, Noras Mann, hält sein »kleines Singvögelchen« wie bei Ibsen natürlich an der kurzen Leine. Was beim Autor aber nur durch Interpretation zu erschließen wäre, diesen Subtext zerrt Fritsch unverhohlen nach vorne: die perversen Gelüste, von denen die Figuren getrieben sind. Helmer muss da eben immer wieder das Röckchen seiner »Lerche« heben, um ihr mit verklemmtem Lustgewinn den Arsch zu versohlen.

Fritsch hat keine Angst vor offensichtlichen Anleihen bei den Meistern des Grauens. Seine Männergarde aus Helmer, dem Hausarzt Dr. Krank (bei Ibsen heißt er Rank; das sind so die Witze von Fritsch) und dem Anwalt Krogstad sehen aus wie Wiedergänger Nosferatus mit ihren aschfahlen Gesichtern und langen Haarfetzen. Gehen können sie auch nur verkorkst. Die Jugendfreundin des Hauses, Frau Linde (absolut bannend: Nora Buzalka), ähnelt verdächtig den großen Hitchcock-Protagonistinnen, wenn sie die Abgründe ihres eigenen Schreckens freilegt. Es ist ein schreckliches Albtraumfest, das die unterdrückten Neurosen schonungslos in die wie fremdgesteuert wirkenden Körpersprachen der Figuren treibt.

Derber Schweriner »Biberpelz«


Ähnlich respektlos-energiegeladen hält es Fritsch mit Gerhard Hauptmann. Zu Beginn der Schweriner Inszenierung bläst das blendend aufgelegte Ensemble erst mal unisono den unterwürfigen Geist gegenüber dem Autor sarkastisch weg und ruft: »Jawoll, Herr Hauptmann“. Der von Anfang an in hohem Tempo gespielte und durchgehaltene Abend - ein paar wohldosierte Verlangsamungen lässt der sichere Dynamiker Fritsch nicht aus - ist ein furioser Ritt durch Hauptmanns Stück. Es geht um zwei Gaunereien der Wäscherin Frau Wolff. Man ist auf dem Land und unter kleinen Leuten – mithin ein völlig anderes Setting als im bürgerlichen Nora-Milieu.

Wo es Hauptmann darum ging, die Liebenswürdigkeit der kleinen Leute trotz ihrer Vergehen zu beleuchten, kehrt Fritsch erneut deren niedere Beweggründe nach vorne – allerdings ohne die Figuren dabei gänzlich zu verraten. Sie bleiben allesamt irgendwie liebenswert in ihrer Beschränktheit. Wo Fritsch bei »Nora« noch entfernt auf so etwas wie psycho-soziale Analyse abzielte, lässt er hier dem komödiantischen Vaudeville, dem derben Volkstheaterspaß freien Lauf. Eine erstaunliche Beherrschung der Mittel hat er auch hier drauf. Den Spielern gönnt er kaum Atempausen, sie müssen Fratzen schneiden, die komischsten Verrenkungen vollführen, in Dialekten brabbeln.

Ein dralles Kuriositätenkabinett, das einen da angafft, in dieser Zuspitzung virtuos gemacht. Man fragt sich fast, welches Stück der Regisseur nicht klein kriegen würde. Und da lauert dann auch eine gewisse Gefahr. Bei einem kleinen Stück wie »Biberpelz« ist das kein Problem und bei »Nora« hat Fritsch die Gefahr packend widerlegt. Warten wir’s ab, im Januar inszeniert er am Kölner Schauspielhaus Brechts »Herr Puntila und sein Knecht Matti«. Die Wechselbeziehungen zwischen dem Berliner Theatertreffen und dem hiesigen Schauspiel gehen also erst mal weiter.