Szene aus "Melancholia" von Lars von Trier

Online Extra: Griff nach den Sternen

Groß, größer, galaktisch: In Cannes war Bescheidenheit dieses Jahr keine Zier

Cannes 2011 war ein Festival der großen Namen und der noch größeren Ambitionen. Folgerichtig hat am Ende die Jury um Präsident Robert De Niro den Film mit den größten Namen und größten Ambitionen die Goldene Palme verliehen. Terrence Malicks »Tree of Life« mit Brad Pitt in der Hauptrolle erzählt in knapp zweieinhalb Stunden nicht weniger als die gesamte Vergangenheit und Zukunft unseres Universums vom Urknall bis zur Explosion der Sonne und verknüpft diese Makrogeschichte mit einem Familienschicksal aus dem Texas der 50er Jahre.

Für die einen war der Film mit seinen Bildern verglühender Sternennebel und verendender Dinosaurier nicht mehr als ein großer Jurassic-Quark, für andere eine Feier der Macht der Bilder und ein tiefgründiges philosophisches Filmessay (mehr dazu im Filmteil der StadtRevue). Wahrscheinlich stimmt beides. Messlatte war für Malick ohne Zweifel »2001 – Odyssee im Weltraum« von Stanley Kubrick, dessen Mann für Spezialeffekte Douglas Trumbull er für »Tree of Life« anheuerte.

Alptraumhafte Tableaus von bizarrer Schönheit

Mit dieser Megalomanie kam selbst Lars von Trier nicht mit, der sich in seinem neuen Film an Andrei Tarkowskis »2001«-Gegenstück »Solaris« abarbeitet. Schon seinen letzen Film »Antichrist« widmete der Däne dem 1986 verstorbenen russischen Meister. Auch in »Melancholia« geht es um einen Planeten, der die Menschen auf magische Weise in seinen Bann zu ziehen vermag, anders als in »Solaris« befindet sich dieser Planet allerdings auf Kollisionskurs mit der Erde. In einem achtminütigen Vorspiel entwirft von Trier eine Serie alptraumhafter Tableaus von bizarrer Schönheit, in der die Bewegung fast eingefroren ist - ein furioser Vorausblick auf die letzten Minuten vor der Apokalypse.

Danach verliert der Film zunehmend an Reiz. Nach dem Vorspiel folgt die amüsante Demontage einer Hochzeitsfeier: Die Braut (Kirsten Dunst) ist depressive, die Braut-Mutter (Charlotte Rampling) wird ausfällig und der Hochzeitsplaner (Udo Kier!) bekommt einen Nervenzusammenbruch. Familienfeiern, in denen schwelende Konflikte aufbrechen, hat man ähnlich schonungslos allerdings schon in vielen Filmen gesehen, nicht zuletzt in Thomas Vinterbergs »Das Fest«. Vom Regisseur von »Dogville« erwartet man mehr. Im letzten Teil von »Melancholia« verfällt der Film dann in eine Schreckensstarre vor dem kommenden Unheil, das am Ende keine große Wucht mehr entfalten kann, da es ja bereits am Anfang des Films in spektakuläreren Bildern vorweggenommen wurde.

Von Triers notorischer Zwang zur Grenzüberschreitung

Den Darstellerinnen-Preis an Kirsten Dunst kann man auch als Anerkennung für den Mut der Hollywoodschauspielerin lesen, mit einem notorisch schwierigen Regisseur zusammengearbeitet zu haben – Björk und Nicole Kidman hätten ihr wahrscheinlich abgeraten. Bei der Preisverleihung durfte von Trier schon gar nicht mehr im Saal anwesend sein. Das Festival hatte ihn zur »Persona non grata« erklärt, nachdem er sich in den letzten Minuten der Pressekonferenz zu »Melancholia« mit Äußerungen über Hitler, Albert Speer und angebliche eigene Nazi-Affinitäten um Kopf und Kragen geredet hatte. Von Triers notorischer Zwang zur Grenzüberschreitung hat ihn dieses mal zu weit getrieben. Wer jetzt seine Filme nach rechtsradikalen Tendenzen untersucht, wie es tatsächlich einige Zeitungen getan haben, hat allerdings weder seine Person verstanden noch die Zwänge unserer modernen Aufmerksamkeitsökonomie.

So unterschiedlich Malick und von Trier als Personen und Regisseure sind, ihre Filme bildeten in Cannes ein kosmologisches Duo, in ihrer Mischung aus einzigartigen, zum Teil genialen Momenten und anmaßender Prätention waren sie sich nahe. Überhaupt spiegelten sich die Filme in der offiziellen Auswahl des Festivals dieses Jahr oftmals auf interessante Weise. Ein weiteres Paar bildeten zwei wesentlich bescheidenere Werke, die ihren eigenen Ansprüchen daher auch besser gerecht werden. »Le Havre« von Aki Kaurismäki und »Le gamin au vélo« von Jean-Pierre und Luc Dardenne erzählen beide von der fast märchenhafte Errettung eines kleinen Jungen, auf allerdings ganz unterschiedliche Weise.

Kaurismäki geht bei der Presiverleihung leer aus

Kaurismäki erschafft erneut seine eigene naiv-romantische Welt, in der die Linie zwischen Gut und Böse genau der zwischen altmodisch und modern entspricht. Die Guten benutzen Telefone mit Wählscheibe, die Bösen Handys; der gute Polizist scheint mit seinem Trenchcoat und Hut aus einem Film noir der 40er Jahre zu stammen, die bösen Polizisten tragen moderne Kampfmonturen. Der Kulturpessimismus des Finnen ist ebenso vorhersehbar wie ermüdend, aber Kaurismäki hat unzweifelhaft eine eigene filmische Ästhetik kreiert, die in sich völlig schlüssig ist. Auch wenn »Le Havre« ein Kritikerfavorit war, am Ende ging er bei der Preisverleihung leer aus, während sein Gegenstück »Le gamin au vélo« den Großen Jurypreis gewann (zusammen mit Nuri Bilge Ceylans »Bir zamanlar Anadolu'da«).

Jean-Pierre und Luc Dardenne liefern mit ihrem neuesten Werk erneut den Beweis, dass sie die Meister des kontinentaleuropäischen Neo-Neorealismus sind – auch wenn sie ein paar Neuerungen zugelassen haben. So haben sie dieses mal ausnahmsweise die weibliche Hauptrolle mit einem echten Star besetzt: Cecile de France, die zuletzt in Clint Eastwoods »Hereafter« auf deutschen Leinwänden zu sehen war. Gefilmt wurde zudem zum ersten Mal im Sommer, sodass ihr Lieblingsdrehort Seraing, eine trostlose Industriestadt bei Lüttich, nicht ganz so grimmig wie sonst aussieht – und am Ende erlauben sie tatsächlich fast so etwas wie ein Happy End.

Ungleiches Paar: Gus van Sant und Andreas Dresen

In der wichtigsten Nebenreihe des Festivals Un Certain Regard bildeten Gus Van Sants »Restless« und Andreas Dresens »Halt auf freier Strecke« ein ungleiches Paar. Beide behandeln den frühen Krebstod ihrer Protagonisten auf diametral entgegengesetzte Weise. Während Van Sant das traurige Thema mit Hilfe von viel Musik und Sentimentalität in dicke Zuckerwatte einhüllt, nähert sich Dresen dem Tod furchtlos semi-dokumentarisch. Die Sequenz zu Beginn des Filmes etwa, in der die erschütternde Diagnose Gehirntumor gestellt wird, improvisierten die Darsteller mit einem echten Onkologen in einer Berliner Klinik.

»Halt auf freier Strecke« ist einer der ganz wenigen Spielfilme, die wirklich vom Sterben handeln. Der nahende Tod des Protagonisten wird hier nicht lediglich als dramaturgisches Hilfsmittel missbraucht, um eine Handlung in Gang zu setzen (etwa die beliebte letzte Reise ans Meer). Darin liegt die Radikalität des Films und deshalb wurde er auch zu Recht mit dem Hauptpreis in seiner Sektion ausgezeichnet (zusammen mit »Arirang« des Koreaners Kim Ki-Duk).

Die Gefahr des Stillstands droht

Dresens Film hätte man sich durchaus auch im Wettbewerb vorstellen können, doch dieses Jahr standen die Chancen schlecht, ohne einen international renommierten Namen oder französische Staatsbürgerschaft um die Goldene Palme mitzukämpfen. Bezeichnend war, dass selbst die beiden Erstlingsfilme im Wettbewerb zumindest prominente Paten vorweisen konnten: »Sleeping Beauty« der australischen Schriftstellerin Julia Leigh wurde von Jane Campion produziert und beim österreichischen Wettbewerbsbeitrag »Michael« führte Markus Schleinzer Regie, der das Casting für die letzten Filme von Michael Haneke gemacht hat.

Da Cannes schon lange unbestritten das bedeutendste Filmfestival der Welt ist, stehen selbst die prominentesten Regisseure Schlange, hier ihre neuen Werke unterzubringen. Die Gefahr des Stillstands droht. Bezeichnend war für diesen Jahrgang, dass die Träger der drei Hauptpreise alle bereits – teilweise mehrfach – in Cannes ausgezeichnet wurden. Ein wenig frischerer Wind könnte im nächsten Jahr nicht schaden.