Volkstheater der Welt

Im Rahmen von Theater der Welt gastiert sie Ende Juni im Kölner Schauspielhaus: Die viel gelobte Gruppe ZT Hollandia mit ihrer Aufführung der »Bakchen« nach Euripides.

Ein Gespräch mit dem Regisseur und Hollandia-Gründer Johan Simons.

»Die Bakchen« hätten als Stück gut zur letzten Herbst öffentlich erklärten, aber im Frühjahr nur halbherzig befolgten Absicht des hiesigen Schauspielhauses gepasst, auf den 11. September 2001 mit Theatermitteln zu reagieren. Dionysos, griechischer Gott der Fruchtbarkeit, des Weins und der Ekstase, kehrt mit neu eroberter weiblicher Gefolgschaft aus Persien in seine Heimatstadt Theben zurück. Er beansprucht die Macht. Als Pentheus, der asketisch-rationale weltliche Herrscher, sie ihm verweigert, verblendet er die Frauen Thebens und zieht mit ihnen, eine Spur der Verwüstung hinterlassend, durch Wälder und Dörfer. Den neuen Gott Bacchus sollen sie anbeten, also Dionysos selbst unter römischem Namen. Dionysos blendet auch den unnachgiebigen Pentheus, steckt ihn in Frauenkleider und weckt seine verborgene Lust, den wilden Weibern zuzusehen. Im Wald wird Pentheus auf eine hohe Tanne gesetzt, enttarnt, und von seiner eigenen Mutter Agave aufs Blutigste zerfetzt. Vom rauschhaften Wahn erlöst, werden Agave und ihr Vater Kadmos von dem neuen, dem göttlichen Herrscher verbannt.

Politisches Theater

Wie auch immer man diesen zu sokratischer Zeit (ca. 410 v. Chr.) von Euripides dramatisch bearbeiteten Mythos auf unsere kriegerische Weltlage übertragen würde, dass Regisseur Johan Simons es tun würde, davon waren die meisten Zuschauer der Brüsseler Premiere im Vorfeld überzeugt. Die von ihm gemeinsam mit dem Musiker und Regisseur Paul Koek 1985 gegründete »Theatergroep Hollandia« ist mit politischem Theater im Stil der 70er bekannt geworden: Theater vor Ort für ein Nicht-Theaterpublikum, Volkstheater site-specific, in Fabrikhallen und Kirchen, auf Bauernhöfen und Autoschrottplätzen.
Seit einigen Jahren gilt Hollandia (wie das flämischsprachige Theater überhaupt) als das große neue Ding des europäischen Theaters. Seit 1997 tourt Mitglied Jeroen Willems mit der Pasolini-Bearbeitung »Zwei Stimmen« durch die Welt und hat inzwischen den Ruf, »einer der großen Schauspieler Europas« zu sein (Die Zeit). Es folgten »Der Fall der Götter« nach Viscontis Film »Die Verdammten«, eine Familiensaga aus der NS-Zeit in Anlehnung an den Industriellenclan Krupp, sowie Fedja van Huêts – der hier den Dionysos spielt – Solo »Ungelöschter Kalk« über den Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe. Insgesamt zwanzig Einladungen stehen zu Buche, zum Holland Festival, zum Niederländisch-Belgischen Theaterfestival und viele Preise, zuletzt der der Europäischen Union für die Schaffung von »New Theatrical Realities«. 2001 fusionierte die nordholländische Gruppe mit Het Zuidelijk Toneel in Eindhoven zur ZT Hollandia. Dem politischen Anspruch und dem Willen zur Unabhängigkeit aber bleiben Simons und Koek auch im Erfolg treu: Einerseits erarbeiten sie »Die Bakchen« als Produktion mit Gerard Mortiers kommender Ruhr-Triennale und zeigen sie auf den großen (koproduzierenden) Festivals in Brüssel, an der Ruhr, in Amsterdam, Athen, Wien und bei Theater der Welt. Andererseits studieren sie zwei Stücke über extensive Schweinezucht auf südholländischen Bauernhöfen ein.

Odem im Nacken

Umso überraschender wirkt Simons’/Koeks Inszenierung der »Bakchen«: Sie verweigern eine eindeutige Interpretation. Die Akteure stecken in antikisierenden Schafsfellkostümen und liefern recht statisch ihre Botenberichte, Monologe und Wechselgespräche so ab, wie sie der Text vorgibt. Die Bühne im Stil des armen Theaters sieht größtenteils aus wie vor einer ersten Probe – Stühle, Podeste, ein Colakasten, ein sperrmüllreifer Kühlschrank. Aber auch zwei vorhanggroße Schafsfelle hängen vom Schnürboden herab und dominieren den Raum: Ungute Erinnerungen an Frank-Patrick Steckels sandalenkitschige, pastorale Inszenierung von Gertrud Kolmars »Nacht« vor zwei Jahren in Düsseldorf werden wach. Doch schnell wird klar, dass diese Aufführung so opernhaft daherkommt, weil sie genau das ist: Musiktheater.
Koek und Simons haben den bekannten syrischen Komponisten Nouri Iskandar für die Idee begeistert, die gesamten Chorszenen der »Bakchen« zu vertonen. Die für mitteleuropäische Ohren ungewohnte Musik setzt sich zusammen aus Melodieabwandlungen syrisch orthodoxer Liturgien, Folklore und traditionellen arabischen Musikstilen wie Muwassah und Kudude. Durch das Zusammenspiel mit drei holländischen Musikern (Paul Koek am Schlagzeug) ist Iskandars Komposition in der Lage, uns je nach Belieben einzulullen – was in seltsamem Gegensatz steht zu den dionysischen Schrecken, von denen der Chor berichtet – oder aufzuschrecken: Urplötzlich wird es in Dolby-Surroundklang drei Mal so laut, und eine Windmaschine bläst den Zuschauern den bedrohlichen göttlichen Odem in den Nacken, dem Dionysos in einer ähnlich kraftvollen Anfangsszene entstiegen war. Über weite Strecken aber dominieren die beruhigenden Chorgesänge der arabischen SängerInnen.

Krieg der Kulturen oder Familiengeschichte?

Was will Simons uns damit sagen? Warum verpufft die enorme, für den Zivilisationsprozess so bedeutsame Spannung zwischen Lustprinzip (Dionysos) und formgebender menschlicher Vernunft (Pentheus)? Wo ist die szenisch-bildliche Umsetzung eines möglichen Interpretationsraums, der reichen könnte von Nietzsches Dionysoskult-Kult (»Leiden-sehn tut wohl«) über freudianische Ungeheuer als Kehrseite maßvoller Vernunft zur heutigen medialen Katastrophensucht und dem schon im Stück angelegten hysterischen Krieg der Kulturen, ja gar dem 11.9.?
Regisseur Simons, ein hünenhafter Mann mit Beethoven-ähnlichem Antlitz, kontert gelassen: »Pentheus und Dionysos, das sind doch Kinder. Für mich sind es negative Figuren – ob weltliche oder göttliche Macht, ich hasse alles, was mit Macht zu tun hat.« »Die Bakchen« hätten ihn vor allem als Familiengeschichte interessiert: Pentheus, der seinen Cousin Dionysos nicht erkennt und dafür mit dem Tod bezahlt. Dionysos in seiner Rachsucht, der die Strafe auf Pentheus’ Mutter Agave und den früheren Machthaber, Pentheus’ Großvater Kadmos, ausdehnt. Der verlorene Neffe reagiert wie ein jähzorniger Mafioso – erbärmlich. Hinkend, grunzend und sich am Gemächt kratzend, kümmert Dionysos der Verlauf der Geschichte scheinbar nicht, zu gut kennt er wohl den öden Kreislauf von Schuld und Strafe. Dennoch könnte Fedja von Huêt seiner Darstellung bis zur Köln-Premiere ein paar Nuancen mehr abgewinnen.

Offene Arbeitsform

Frieda Pittors spielt die Agave. Ihr nach der Ermordung des Sohnes zuzusehen, ist ein Hochgenuss. Ihre fünfzehn Minuten gegen Ende machen so manche Länge des Abends wett. Warum gibt der Regisseur seiner besten Schauspielerin nur so wenig Raum? »Ich habe mit Frieda diskutiert«, sagt Simons, »ob sie von Anfang an auf der Bühne sein sollte. Sie hat nun mal nicht viel mehr Text.« Er grübelt. »Aber vielleicht ändere ich das noch.« Solch offene Arbeitsformen sucht man bei anderen Regisseuren meist vergeblich. Vielleicht ist das der Schlüssel zu Hollandias Erfolg.
Die Mordtat der Mutter Agave ist so schrecklich und groß, dass selbst Euripides’ Worte nicht ausreichen, meint Simons. Daher steigert sich die Musik in diesem Moment wie bei Ravels »Bolero«. Iskandars Oratorium und der syrische Chor sind es auch, die die Frage nach dem politischen Akzent beantworten. »Wir haben schon vor vier Jahren mit der Arbeit begonnen und nach der ältesten Volksmusik gesucht«, erzählt er. »Syrien und Griechenland waren damals ein gemeinsamer Kulturkreis und ihre Musik sehr ähnlich. Der später getrennte Orient und Okzident stammen aus denselben Wurzeln, es ist wie mit Platons Kugelmenschen. Die Kunst verbindet alle Kulturen durch ihre Schönheit. Und spricht es nicht für sich, dass Holländer und Syrer gemeinsam auf einer Bühne stehen?«
Matthias Lilienthal, Programmchef von Theater der Welt, befand den Abend für »großartig in seiner Unterspieltheit.« »Zähflüssig« ist ein Rezensentenwort dafür. Und doch: als grenzen- und zeitloses Volkstheater – unverzichtbar für ein Theater der Welt.

ZT Hollandia bei Theater der Welt: »Die Bakchen« nach Euripides. R: Johan Simons/Paul Koek, M: Nouri Iskandar, eine Produktion von ZT Hollandia und Ruhr-Triennale, Schauspielhaus Köln, 25.-27.6., 19.30 Uhr.
»Transformationen 6«, Gespräch zwischen Johan Simons und Matthias Lilienthal über das »Modell Hollandia«, Festivalzentrum Köln (DesignHaus/
ehem. British Council), 27.6., 22.30 Uhr. Am 25.6. spielt Nouri Iskander mit seinem syrischen Ensemble im Festivalzentrum Köln, Beginn: 24.00 Uhr.